Überraschende Wendungen

Was läuft Die neue Variante des Vorher-Nachher-Gesellschaftsspiels: Über Serien vor und nach 2016 und „ACS: The People vs. O.J. Simpson“. Spoiler-Anteil: 100 Prozent
Ausgabe 01/2017

Zu den beliebtesten Gesellschaftsspielen der letzten Zeit gehört die neue Variante des Vorher-Nachher: wie sich die Dinge, genauer gesagt Serien und andere Popkultur-Artefakte, anfühlen vor und nach dem Brexit-Votum, vor und nach der Trump-Wahl, vor und nach dem gesamten „Annus horribilis 2016“.

Davor galt die vierte Staffel House of Cards mit der unglaubwürdigen Wendung, dass Claire Underwood die Vizepräsidentin zu ihrem offen das Chaos verursachenden Mann wird, als „nun wirklich übertrieben“. Danach ist die Übertreibung ein frommer Wunsch und Francis Underwood ein Prophet: „Politik ist nicht länger nur Theater, Politik ist Showbusiness. Also lasst uns die beste Show veranstalten.“

Davor konnte man herzlich lachen über Präsidentin Selina Meyer in Veep, deren Wiederwahl an einer knappen Auszählung scheitert. Danach hören sich ihre Sticheleien („Wenn Männer schwanger werden könnten, gäbe es Abtreibungen an jedem Geldautomaten“) wie trockene Soziologenanalyse an. Selbst so fern vom Hier und Heute angesiedelte Serien wie The Americans – 80er Jahre! Sowjetische Spione! Kalter Krieg! – bekommen plötzlich einen fast unangenehm aktuellen Zeitbezug. Von Game of Thrones ganz zu schweigen: Sansa Starks Verdikt „Winter is here“ fasst das Jahr zusammen wie kein anderes.

Und dann gibt es noch Serien wie American Crime Story: The People v. O. J. Simpson (ab 6. Januar auf Sky Atlantic): Auf den ersten Blick mäßig interessant, weil doch „nur“ die Nacherzählung von längst bekannten Ereignissen aus den fernen 90er Jahren. Als die zehnteilige Serie von Februar bis April 2016 in den USA ausgestrahlt wurde, waren die Reaktionen zunächst verhalten, erwartete man doch eine mehr oder weniger boulevardeske Rekonstruktion der damals weltweit Schlagzeilen generierenden Vorfälle, von der Jagd auf den weißen Bronco vor laufenden Kameras bis zum Handschuh, der nicht passte. Die Besetzung von John Travolta in der Rolle des Staranwalts Robert Shapiro und von David Schwimmer als Simpson-Freund Robert Kardashian schien einen gewissen trashigen Charme zu garantieren.

Aber dann stellte sich The People v. O.J. Simpson als etwas ganz anderes heraus: als hervorragende Gelegenheit, in der genauen Analyse der Vergangenheit das zu finden, was noch heute schwelt. Unter den Serien des Jahres 2016 gehört The People v. O. J. Simpson zu denen mit dem geringsten Eskapismus-Charakter.

Zur Erinnerung: Am Morgen des 13. Juni 1994 wurde Nicole Simpson, Exfrau des nicht mehr aktiven Football-Stars O. J. Simpson, zusammen mit ihrem Geliebten Ron Goldman erstochen im Vorgarten ihres Hauses in Los Angeles gefunden. Nach kurzem Hin und Her fiel der Verdacht auf den Exmann, der nach einer live übertragenen, spektakulären Verfolgungsjagd verhaftet wurde. Am 9. November 1994 begann der Prozess, der am 3. Oktober 1995 mit einem die USA bis heute spaltenden Urteil endete, nämlich dem Freispruch für O. J. Simpson.

Heutzutage gilt eine Geschichte, deren Ausgang man kennt, als gespoilt und mithin langweilig. Schon deshalb lohnt sich The People v. O.J. Simpson, weil die zehn Episoden aufzeigen, dass überraschende Wendungen in den Erzählungen der Gegenwart hoffnungslos überschätzt werden. Selbst wer sich an die Details des Prozesses noch erinnert, wird jede Folge mit Hochspannung verfolgen. Denn den Autoren der Serie gelingt es, jede auftretende Figur so vieldimensional und interessant zu machen, dass ihr Zusammenspiel mehr ergibt als bloße Nacherzählung.

Man sieht auf der einen Seite den schwarzen Staranwalt Johnnie Cochran (der großartige, dafür mit einem Emmy ausgezeichnete Courtney B. Vance), der den Fall für seine Agenda nutzt, aus nachvollziehbaren, wenn auch vielleicht nicht ganz richtigen Gründen. Und man sieht auf der anderen die Staatsanwältin Marcia Clark (die ebenfalls Emmy-prämierte Sarah Paulson), die sich unvorbereitet mit einer Medienberichterstattung konfrontiert sieht, deren Misogynie und Sexismus für heutige Augen viel offensichtlicher sind, als sie es damals war. Und man sieht, und das ist das unheimlich Aktuelle an dieser Serie, wie Dinge schieflaufen, aber aus richtigen Gründen. Wie tatsächlich erlittenes Unrecht zu neuen Fehlurteilen führt, woraus wieder neues Unrecht erwächst – die perfekte Widerlegung der historischen Vernunft und des bis vor kurzem noch gängigen Fortschrittsglaubens.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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