Wir begegnen uns ab und zu, Vera und ich, aber wir grüßen uns nie. Mit Mann und Kind spaziert sie über den Winterfeldplatz, wo ich fröstelnd auf einer Bank die letzte Nachmittagssonne genieße. Aus der Häufigkeit unserer Treffen und ihrer örtlichen Verteilung kann ich ziemlich genau abschätzen, wo sie wohnt. Das geht mir mit Frank genauso, der in diesem Moment auf dem Fahrrad an mir vorbeifährt. Jeder Außenstehende, der hier drei Großstadtexistenzen in der Anonymität der zufälligen Begegnung beobachtet, wäre verblüfft darüber, was ich über die beiden alles zu sagen wüsste. Denn Menschen wie Vera und Frank bevölkern mein Leben: Ich habe einen Hang zu langjährigen Bekanntschaften mit Unbekannten.
Das fing im Grunde mit Tschimmek an. Dass er so hieß, hatte meine Schulfreundin Birgit in Erfahrung gebracht; sie muss es bei ihrem älteren Bruder aufgeschnappt haben. Tschimmek hatte lange dunkle Haare und trug betont lässig über der Schulter statt einer Schultasche eine jener gewebten Hängetaschen, die heute wieder Mode werden. Wir fanden ihn wunderschön. Birgit stieg morgens extra an meiner Haltestelle aus ihrem Bus aus, um mit mir gemeinsam dann jenen zu nehmen, in dem Tschimmek zur Schule fuhr. Er war Abiturient und wir besuchten die fünfte Klasse. Der erhebliche Größenunterschied sorgte wohl dafür, dass er uns immer übersah. Was unser schwärmerisches Verhalten eigentlich erst bestärkte. Später dann, ich weiß nicht mehr wie, habe ich erfahren, dass sein Spitzname eigentlich "Grzimek" war, sich auf seine besondere Tierliebe bezog und von jenem berühmten Professor ableitete, der die Sendung Ein Platz für Tiere moderierte. Würde es ihn überraschen, dass es mal zwei kleine Elfjährige gab, die seinen Spitznamen nicht zu deuten wussten, dafür aber Morgen für Morgen seinen Bus abpassten, um dann scheu und dreist zugleich zu versuchen, ein wenig in seine Nähe zu kommen und mitanzuhören, was er mit anderen sprach?
Frank, den ich auf ganz andere Weise kenne ohne ihn zu kennen, nannten wir früher nur "den Taxifahrer". Damit verdiente er sich anscheinend sein Studium. Das war zu einer Zeit, als ich mit Freundin Susanne ganze Nachmittage und Abende vor einer einzigen Tasse Tee verbummelte. Wohin wir auch kamen, schien er schon da zu sein. Die Großstadt wurde durch sein ständiges Auftauchen auf einmal klein. Heute denke ich mir, er muss ein Auge auf Susanne geworfen haben. Angesprochen hat er sie nie. Irgendwann auf jeden Fall lernte ich Menschen kennen, die ihn wirklich kannten, und ohne je mit ihm geredet zu haben, redete ich über ihn und erfuhr, dass er das Taxifahren aufgegeben und die langjährige Arbeit an der Dissertation in Philosophie doch noch zum glorreichen Abschluss gebracht hat. Seither bin ich immer, wenn ich ihn sehe, irgendwie stolz auf ihn.
Auch die Begegnungen mit Vera lassen mich nie gleichgültig. Dass sie hier mit Mann und Kind über den Winterfeldplatz spaziert, daran habe ich nämlich sogar mitgewirkt. Vera kommt aus Moskau. Mein Studienkollege Martin hatte sich bei einem Kursaufenthalt dort in sie verliebt. Als ich dann ein Jahr später den gleichen Sprachkurs absolvierte, entschlossen sie sich zu heiraten. Drei Monate lang war ich der Liebesbote, der Briefe und Päckchen über das Privileg der Botschaftspost hin und her trug. Bald schon zog Vera zu Martin nach Berlin. Als ich zurückkam, besuchte ich noch einige Male das junge Glück; dann verloren wir uns ein wenig aus den Augen. Irgendwann trennten sie sich. Von Zeit zu Zeit traf ich Martin am Institut, der erzählte, dass Vera Chinesisch studierte und bald für längere Zeit nach Peking gehen wollte. Einige Jahre später, auch zu Martin hatte ich keinen Kontakt mehr, sah ich sie auf einmal drei Tische weiter in einer Schöneberger Bar sitzen, umgeben von mehreren Chinesen. Sie unterhielten sich lautstark und unschwer konnte ich hören, wie weit es Vera in der Sprache gebracht hat. Irgendwie verpassten wir beide den Moment, an dem wir uns gegenseitig hätten erkennen müssen. Ich auf jeden Fall tat so, als hätte ich ihr nie Liebesbriefe überbracht.
Von da an sah ich sie wie gesagt öfter; sie muss in meine Gegend gezogen sein. So konnte ich ungestört vom Zwang, bei jedem Wiedersehen eine "Und-wie-geht´s-dir"-Konversation zu betreiben, ihr Leben verfolgen. Es tauchte ein ständiger Begleiter asiatischer Herkunft an ihrer Seite auf, und vor circa zwei Jahren kam dann das Kind. Als sie nun in unmittelbarer Nähe an meiner Bank vorbeigeht, sehe ich bei aller Beiläufigkeit, dass sie wieder schwanger ist und frage mich erschreckt: Was weiß sie wohl alles über mich?
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