Ungläubiges Sehen

55. Internationales Filmfestival in Locarno So heftig die in den Filmen gezeigten Konflikte auch sind, am Schluss wird doch meist ein Happy End bevorzugt

Das Filmfestival in Locarno ist wahrscheinlich das einzige seiner Art, das sich wirklich postkartentauglich fotografieren lässt: Kein austauschbarer roter Teppich mit Stars bildet hier den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern der Marktplatz, die "Piazza" mit ihrer Riesenleinwand und den abendlich bis zu 7.000 Zuschauern. Das Bild, das Locarno bei gutem Wetter bietet, ist dementsprechend heiter, friedlich und kinobegeistert. Wer daraus direkt auf den Charakter der gezeigten Filme schließt, liegt nicht unbedingt richtig: Gerade in Ermangelung der großen Produktionen, die drei Wochen später auf dem Festival in Venedig gezeigt werden, dokumentiert die Auswahl in Locarno stets ein besonderes Bewusstsein für die Sorgen und Nöte dieser Welt. Von Umwelt- und Rassenkonflikten in Indien über die Probleme neapolitanischer Fußballfans bis zum Nahost-Konflikt, um nur die gröbsten Eckpunkte zu nennen, konnte man sich auch dieses Jahr wieder in den diversen Sektionen des Festivals informieren oder doch zumindest ein Bild machen. Was, wie der erfahrene Zuschauer weiß, nicht ganz dasselbe ist.
"I see it, but I don´t believe it", sagt ein Cowboy zum anderen, während der dritte ihnen gerade mit waghalsigen Rittkunststücken beweisen will, dass er einst Kosak der zaristischen Armee gewesen sei. Für die Retrospektive der Filme von Allan Dwan, aus der diese Szene stammt, galt solch lakonische Skepsis noch am wenigsten. Ob frühe Stummfilme oder späte B-Movies, Dwans Filme stellten in diesem Jahr eine Oase dar für alle, die nach den Strapazen des Neuen ihren Durst nach dem Kino der alten Schule stillen wollten. Und gleichgültig, ob man ihn für einen verkannten Großmeister oder lediglich für einen bislang wenig beachteten Routinier hielt, boten seine schnellen, direkten Filme, die noch die komplizierteste Handlung in 78 Minuten inklusive rasanten Verfolgungsszenen und ganz ohne Schnickschnack abhandeln, sichere Zuflucht vor den vielen asketisch-strengen, im Zweifelsfall mit DV-Kamera gedrehten Versuchen, von der Gegenwart zu erzählen.
Um dem Anspruch, sich um die Gegenwart zu bemühen, auch wirklich Genüge zu tun, wurde in diesem Jahr ein "Afghanistan-Tag" eingerichtet, anlässlich dessen ein paar kurze Dokumentar- und Videofilme aus dem letzten Jahr und eine kleine Reihe von Spielfilmen aus den Jahren 1990-96 gezeigt wurden. Das war natürlich nicht genug, um sich ein Bild zu machen über das afghanische Filmschaffen, reichte aber, um über den Wandel der Zeiten zu staunen. Kein Jahrzehnt also ist es her, dass in Kabul Filme gedreht wurden, die eine afghanische Gegenwart zeigen, wie wir sie uns jetzt für die nächsten zehn Jahre nicht mehr vorstellen können: Eine moderne Stadt mit gerade fertiggestellten Plattenbauten, die Männer in Lederjacken und Jeans, kein Turban weit und breit, und ebenso die Frauen mit offenen Haaren und westlicher Kleidung. Die düstere Melancholie, von der die Filme geprägt waren, ließ allerdings erahnen, dass jenseits des scheinbaren Friedens die Konflikte weiterschwelten.
Das Unwissen der Geheimdienste vor den Attentaten am 11. September hatte ein Mitarbeiter mit dem viel kolportierten Spruch begründet, es sei schwierig, arabischsprechende Westler zu finden, die bereit wären, bei schlechtem Essen und ohne Frauen Monate in den Bergen Afghanistans zu verbringen. Auf dieses Zitat bezieht sich Heiner Stadler in seinem Film-Essay Essen, Schlafen, keine Frauen. In der Verbindung von Privatem und Politischem ist es ihm ironisches Leitmotiv für eine Reise um die Welt, die er auf den 7. Oktober 2001 datiert, dem Tag des Angriffs amerikanischer Truppen auf Afghanistan. In Pakistan begegnet er einem Schildermaler für Kinoplakate, der Angst hat, dass auch sein Kino bald von Fundamentalisten in Brand gesteckt werden könnte, in Brasilien trifft er auf Goldgräber, die sich über den Kursanstieg für Edelmetalle freuen, in Ägypten filmt er einen Musiker, der seine USA-Tournee absagt, man habe für seine Sicherheit nicht mehr garantieren können ... Stadler sammelt Beiläufigkeiten, deren Zusammenhang sich zufällig und gleichzeitig zwingend ergeben soll, wie das eben so ist auf der Welt und dem Schmetterlingsschlag in China, der an der Ostküste der USA den Wirbelsturm auslöst. So launisch und nett und zeitweise hübsch pointiert seine Beobachtungen sind, leidet sein Film doch darunter, dass man nicht ganz glauben kann, was er zu sehen vorgibt: Die Bilder, so erfährt man aus dem Abspann, sind über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden.
Vom brennenden Interesse an den Konflikten der Gegenwart und den darüber hinausgehenden Zusammenhängen zeugte in diesem Jahr auch der Publikumsansturm für die Dokumentarfilme der Reihe "Semaine de la Critique". Die Entscheidung sei ihnen wegen der hervorragenden Auswahl sehr schwer gefallen, überschrieb die Jury die Begründung, mit der sie Forget Bagdad - Jews and Arabs - The Iraqi Connection des Schweizer Filmproduzenten Samir auszeichnete. Samir, der selbst aus dem Irak stammt, sucht in seinem Film vier ehemalige jüdisch-irakische Kommunisten auf, die heute im Exil in Israel leben. Zur Sprache kommt dabei nicht nur die Vertreibung der jüdischen Gemeinde aus Bagdad, sondern auch die spezifischen Schwierigkeiten, mit denen die orientalischen Juden in Israel zu kämpfen haben und hatten. Was die älteren Herren zu sagen haben, ist so spannend, dass es ausreicht, dass Regisseur Samir sie einfach erzählen lässt. Aber an manchen Stellen hätte man sich doch gewünscht, dass er selbst mehr recherchiert hätte oder wenigstens manchmal kritisch nachfragen würde: Was die Gründe für den Austritt aus der Partei waren, welche Rolle Israel bei der Auswanderung der Iraker Juden wirklich spielte, wie das Verhältnis von Juden und Arabern in der kommunistischen Partei war? Vielleicht aber wirft eine solche Suche nach den Motiven der Väter, wie Samir sie in Forget Bagdad unternimmt, stets mehr Fragen auf, als beantwortet werden können.
Eine Suche nach den eigenen Wurzeln unternimmt auch Viviane Ostrovsky in ihrem Film Nikita Kino. Darin erzählt sie, wie ihr Vater, ein nach Brasilien ausgewanderter russischer Jude, 1960 erstmals wieder Nachrichten von seinem in Moskau lebenden Bruder empfängt. Verschiedene Super-8-Aufnahmen, die auf den zahlreichen Reisen zu den russischen Verwandten daraufhin entstanden, schneidet Ostrovsky mit Filmausschnitten aus der Zeit zusammen und erzählt dazu von ihren Kindheitseindrücken an ein inzwischen verschwundenes Land, das in den offiziellen Geschichtsbüchern eher schlechte Erinnerungen hinterlassen hat, in der persönlichen Familiensaga aber einen ganz anderen, mit zarter Wehmut gehüteten Platz einnimmt.
Die Wichtigkeit und auch die Grandiosität des Familienzusammenhalts feiert das indische Kino in vielen Spielarten, seien es die großen Bollywood-Produktionen oder die Autorenfilme aus allen Ecken des Landes, von denen einige in der Retrospektive Indian Summer in Locarno vorgestellt wurden. Die Familie verbürgt die Identität und am Familiennamen ist zu erkennen, zu welcher Ethnie, zu welcher Religion jemand gehört. Den eigenen Namen zu nennen, kann deshalb auch lebensgefährlich sein. Im indischen Wettbewerbsbeitrag Mr. and Mrs. Iyer wird ein Muslime von einer Tamilin gerettet, indem sie ihn als ihren Mann ausgibt, "Mr. Iyer". Unterwegs nach Kalkutta ist ihr Reisebus in Unruhen geraten, wo die eine religiöse Gruppe die andere verfolgt. In der angespannten Lage werden aus kleinsten Alltagshandlungen wie Wasser aus der Flasche trinken entscheidende kulturelle Unterschiede, die dem westlichen Zuschauer in gesonderten Untertiteln erklärt werden müssen. Mr. and Mrs. Iyer will ein Plädoyer für Verständigung sein und gibt mit seiner übergroßen Sorgfalt in der fast zu schönen Inszenierung zugleich einen Hinweis darauf, wie riesig die Abgründe der Vorurteile in Wirklichkeit wohl sind.
"Bloß kein Moslem", antwortet auch die junge Jess auf die Frage ihrer englischen Freundinnen, wen sie heiraten dürfte. Bend it like Beckham, der in diesem Jahr den Publikumspreis erhielt, verhandelt komödiantisch den Entfremdungsprozess der nachgeborenen Emigrantengeneration. Eine fußballspielende Tochter wie Jess zeugt ja fast schon von einer Art Überanpassung ans englische Umfeld. Inmitten einer indischen Gemeinde mit traditionsbewussten Müttern und Vätern, die sich ihre indische Identität sorgsam bewahren, was im friedlichen und wohlhabenden England fast leichter scheint als im konfliktbeladenen Mutterland, kämpft Jess also darum, als indisches Mädchen Fußball spielen, und, das aber erst später, einen nichtindischen Mann lieben zu dürfen. Regisseurin Gurinder Chadha liegt sichtlich daran, ihre Landsleute nicht einfach als rückständige Traditionalisten zu zeigen. Sie löst das Dilemma von Entfremdung und Anpassung durch Nachgeben der Eltern: Die Vaterliebe macht´s möglich, so dass am Ende der große indische Familiensinn doch wieder triumphieren darf.
So konfliktreich die Filme, so versöhnlich geriet oft das Schlussbild; dieses Fazit konnte man nach vielen Beiträgen ziehen, sei es das argentinische Roadmovie Tan de repente (Ganz plötzlich), der holländische Mädchen-Film Meisje oder die dänische Frauen-Komödie Okay - am Ende steht immer wieder die Familienpostkarte. Dass die verschiedenen Jurys mit dem deutschen Wettbewerbsbeitrag Das Verlangen und dem französischen La Cage jeweils sehr unversöhnliche, verschlossene und in ihrer Formsprache strenge Filme auszeichneten, kann man jedoch als Hinweis darauf deuten, dass dem Frieden der Poskartenbilder allgemein misstraut wird.

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