Vargas geht llos

22. Filmfestival von Turin Neue Blicke auf Amerika und ein argentinischer Siegerfilm

Turin sei anders als die anderen Städte Italiens, heißt es, irgendwie aristokratischer, und das, obwohl die Stadt in der Welt vor allem für zwei Dinge bekannt ist: Ihre Fußballmannschaft und die "Fabbrica Italiana Automobili Torino", kurz gesagt Fiat. Tatsächlich wird als besondere Spezialität in den plüschig dekorierten Cafés der Altstadt eine wahrhaft adlige Schokolade gereicht, eine Art heißes, flüssiges Nutella, das man besser löffelt als trinkt und das sich bei Abkühlung am Tassenrand verfestigt. Wie von selbst verändert sich während des Genusses die Perspektive: Auf einmal ist weniger interessant, was die Welt von Turin halten mag als vielmehr umgekehrt, wie die Welt sich von hier aus betrachten lässt.

An dieser Form der "exzentrischen" Anschauung richtet sich das Turiner Filmfestival aus. Gegründet, um sich dem "jungen Kino" zu widmen, hat es sich inzwischen zu einem Treffpunkt jener Cinephilen entwickelt, deren Vorlieben auf den ersten Blick weit auseinander liegen, aber auf den zweiten einen nicht ganz einfach zu fassenden gemeinsamen Nenner haben. Ihn als political correctness zu beschreiben wäre zu einseitig und wohl auch zu diffamierend, und doch hat es etwas damit zu tun. So unterschiedlich die Filme sind, die hier im Spiel- und Dokumentarfilm-Wettbwerb, in weiteren Nebenreihen, Hommagen und Retrospektiven laufen, lässt sich in ihnen doch ein soziokultureller Konsens ausmachen. Oder liegt der am Ende nur im Auge des Betrachters?

Die Reihe Americana zum Beispiel bot Gelegenheit, auf sehr instruierende Weise die amerikanische Präsidentenwahl nachzubereiten. Gezeigt wurde nicht nur der Dokumentarfilm Outfoxed, der Murdochs Fox-News-Imperium als Propaganda-Maschine pro Bush outet, sondern auch die jüngsten Arbeiten von Steven Soderbergh, John Sayles, John Landis und Robert Altman, die interessanterweise alle durch Annäherung ans Dok-Genre versuchen, das politische System der USA zu begreifen. Ihre Filme zeugen von entscheidenden Veränderungen: Sie dokumentieren weniger die gute Gesinnung der beteiligten Künstler, sondern gehen erstaunliche formelle Wagnisse ein, um aus den vertrauten Sichtweisen auszubrechen.

John Sayles gibt in Silver City vordergründig die klassische Parabel wieder: Heruntergekommener Enthüllungsjournalist gegen korruptes Industrie- und Machtkartell. Das Ungewöhnliche an dem Film ist der von Chris Cooper gespielte aufsteigende Politiker. Für die Handlung ist er völlig nebensächlich, wobei gerade das ihn so treffend charakterisiert. Er sei ein true believer sagen diejenigen, die ihn als Politik-Marionette einsetzen. Coopers Gouverneur ist wie Präsident Bush ein ungelenker und nicht besonders intelligent wirkender Mann. Und trotzdem, nein gerade deshalb kommt er gut an. In wenigen Momenten nur demonstriert der Schauspieler Cooper, was das eigentliche Medientalent Bushs ausmacht - der diskrete Charme der Beschränktheit. Dass er bei freier Rede über die eigene Rhetorik stolpert, macht ihn erst richtig glaubwürdig.

Diese Art der Anti-Imagepflege hat die gängige Politikberatung noch nicht völlig im Griff. Dort, wie Steven Soderbergh in seiner kleinen HBO-Fernsehserie K-Street demonstriert, wird Kandidat Howard Dean noch auf gutes Antworten getrimmt, ganz so, als ob von einer gelungenen Formulierung die ganze Wahl abhinge. Soderbergh zeigt in seinem Verwirrspiel von Realität und Fiktion - echte Politikberater spielen sich selbst an der Seite von Schauspielern - Politik als undurchsichtiges Geschäft, in der die wichtigsten Entscheidungen nicht "innerhalb", bei Meetings oder Abstimmungen, sondern "draußen", beim Handytelefonieren auf Fluren, getroffen werden.

Robert Altmann hat bereits docufiction gedreht, als das Genre kaum erfunden war. Für Tanner schleuste er 1988 den Schauspieler Michael Murphy als demokratischen Präsidentschaftskandidaten ins reale Wahlgeschehen ein. Mit Tanner on Tanner setzt er nun eine Generation später an. Cynthia Nixon spielt Tanner-Tochter Alex, die einen Dokumentarfilm dreht über ihren Vater und die Politik heute. Wie bei Soderbergh geben sich bei Altmann die berühmten Gesichter ein Stelldichein, wobei die Politikerkinder Alexandra Kerry und Ron Reagan an einer Stelle sämtlichen Schauspielern als kongeniale Komiker die Schau stehlen. In der Filmhandlung scheitert die Dokumentation der Tochter am opportunistischen Umschwenken des Vaters vom Kerry-Kritiker zum potentiellen Kabinettsmitglied. Aber Altmann hat kein Mitleid mit seiner Hauptfigur. Tanner on Tanner stellt weniger die Demokraten bloß als vielmehr den naiven Politikstil der Dokumentar-Aktivisten. In einer Szene filmt Altmans Kamera, wie seine Dokumentaristin ihre Kamera auf Michael Moore und sein Filmteam richtet. "Wir machen einen Dokumentarfilm über Dokumentarfilmer", tritt später jemand an sie heran. Die Verkettung guter Absichten führt eben nicht unbedingt zu deren Durchsetzung.

"Gut gemeint" ist ein Emblem, das man den Filmen von John Landis zuletzt aufsetzen würde. Ihm war in Turin eine Retrospektive gewidmet, womit klar wird, dass der oben erwähnte soziokulturelle Konsens zugleich ein popkultureller ist. Landis verkörpert jene Subkultur Amerikas, die sich im Mainstream verkleidet, manchmal zwar nicht von ihm zu unterscheiden ist, ihn manchmal aber respektlos durch "trashigen" Umgang unterhöhlt. Eine harmlose Komödie wie Spione wie wir kann so gesehen subversiver erscheinen als Landis´ jüngstes Film Slasher, in dem er die amerikanische Lügen-Ikone, einen Gebrauchtwagenhändler, porträtiert. In Spione wie wir wird der Kalte Krieg bezeichnenderweise durch ein Quiz beendet - mit so entscheidenden Fragen wie: "Welcher Little Richard-Song bezieht sich auf einen Film mit Jayne Mansfield?" Es ist ein netter Scherz, dem man gerade in Turin einen gewissen Ernst abgewinnt. Denn der soziokulturelle Konsens speist sich aus eben jener"Multitude" der Popkulturen, in der Kennerschaft ein hohes Gut darstellt.

Zu dieser Vielfalt gehören sowohl der italienische Neo-Realismus - vertreten durch eine große Luciano Emmer-Retrospektive - als auch das Hongkongkino samt seiner Action-Verliebtheit. Und dessen in ästhetischer Hinsicht totales Gegenteil: das strenge Kunstkino aus den Peripherien dieser Welt. Der Hauptpreis des Festivals ging an den argentinischen Film Los Muertos von Lisandro Alonso, dem fast wortlosen Porträt des Mannes Vargas (Argentino Vargas) und seines Wegs aus dem Gefängnis in den Dschungel. Es gibt keine Erklärungen und kaum Handlung, nur Landschaft, ein paar Begegnungen und ein paar Tätigkeiten. Von dem Film geht eine fast hypnotische Wirkung aus. Obwohl es die alltäglichsten Dinge sind - ein Boot besteigen, Feuermachen, einen Fisch angeln - sieht man etwas, das man so noch nicht gesehen hat.


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