Abend für Abend herrscht vor dem Festivalpalast Aufregung. Erwartungsvoll drängen sich Menschen zusammen, rangeln um Aussichtspositionen; die hartnäckigsten unter ihnen seit dem frühen Morgen. Es ist klein, das Stück roter Teppich, das zum Eingang des Festivalpalasts hinaufführt, aber es ist unbestreitbar der Mittelpunkt des Festivals. Cannes ist der Ort, an dem das Kino noch Außenwirkung zeigt: Stets sind mehr Leute draußen als drinnen. Wer eingelassen wird, nach strenger Kontrolle und nur bei Einhaltung des Dresscodes, zählt zu den happy few.
Vor jedem Film wird innen auf der Leinwand übertragen, was draußen auf der Treppe passiert. Der Aufmarsch der Stars, das ist in Cannes kein bloßes Ritual, es ist fast schon eine Art Messe, ein Gottesdienst. Die Stars schenken für gezählte Momente ihren Anblick dem Heer der Fotografen und ein klein wenig auch der Publikumsmeute, die sich willig beglückt zeigt. Sie tun es mit Grazie, was auch heißen soll: gnädig.
Die Inszenierung ist so präzise, so kontrolliert, dass die feinen Unterschiede sichtbar werden, die Cannes von den anderen großen Festivals der Welt trennen. Cannes ist das wichtigste unter ihnen, weil es sich wichtig nimmt und die Wichtigkeit inszeniert wird. Wo sonst muss selbst das gemeine Publikum zum Kinobesuch im Festivalpalast in Abendrobe erscheinen.
Die feierliche Inszenierung ermöglicht es, das Kino, die Filme an sich so wichtig zu nehmen wie sonst nirgends. Obwohl die Auswahl der gezeigten Filme von vielen zufälligen und subjektiven Faktoren abhängt, lesen Kritiker wie Zuschauer die Tendenzen des Festivals als Ausdruck der gegenwärtigen Weltverfasstheit. In diesem Sinne wird in Cannes, wo man sich weit weg von Hollywood wähnt und geradezu das gegenteilige Selbstverständnis pflegt, das Kino also erst recht als Bewusstseinsindustrie verstanden. Tatsächlich stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass bei den Filmautoren in Ost und West, in Erst- und Drittweltländern immer wieder die gleichen Themen auftauchen. Auf einmal entsteht ein spannender und vielverzweigter Dialog zwischen Mainstream und Arthouse, zwischen Genre- und Autorenkino, zwischen Komödie und Tragödie.
Filme mit allzu vorhersehbaren Anliegen gehen dabei schnell unter. Hinar Saleems Einwurf für ein befreites Kurdistan, Kilométre Zero, Mario Tullio Giordanas Asylanten-Drama Once you´re born ... oder Amos Gitais kleines Frauen-Roadmovie zum Nah-Ostkonflikt, Free Zone, sie alle ließ man als sympathische, aber langweilige Gesprächspartner einfach wie ins Leere reden. Ähnlich unbeeindruckt zeigte man sich andererseits von pompösen Marketingauftritten wie der Premiere von George Lucas´ Star Wars - Revenge of the Sith. Der schnaufende Darth Vader, den die Menge mit hysterischem Jubel begrüßt, ein Live-Orchester, das den Ohrwurmmarsch der Filmmusik nachspielt - trotz aufwändiger Inszenierung wurde Cannes nicht zum Star Wars-Festival, sondern vielmehr umgekehrt: Star Wars wurde zum Festivalfilm. Soll heißen: bemerkenswert erschien am Abschlussteil der Sternenkrieger-Saga eigentlich nur, dass auch er ein Thema variiert, das sich durch sämtliche Sektionen und Ästhetiken des Festivals hindurchzog: die Problematik der Vaterschaft. Die besteht in Mangel und Abwesenheit, weshalb in unzähligen Filmen des Festivals Väter ihre Kinder suchten, mit unterschiedlichem Erfolg. Unschwer ließ sich hinter dieser wiederkehrenden Kindersuche die Frage nach Tradition und Erbschaft erkennen. Anders gesagt: ein Fragen nach den Bedingungen der Geschichte, vor allem aber nach der Gewalt, die sie strukturiert.
Der Titel des neuen Films von David Cronenberg las sich in diesem Zusammenhang programmatisch: Eine Geschichte der Gewalt. Viggo Mortensen spielt den biederen Familienvater in einer amerikanischen Kleinstadt, dessen Kneipe eines Abends überfallen wird. Mit verblüffender Geschicklichkeit bringt er die Einbrecher um, noch bevor die Situation zur Geiselnahme eskaliert. Die Medien feiern ihn daraufhin als Helden. Wenig später tauchen jedoch finstere Gestalten aus der Großstadt auf, die behaupten, in ihm den Helden einer ganz anderen Geschichte zu erkennen. Der brave Ehemann, der seinem Sohn beibringt, sich nicht zu Schlägereien provozieren zu lassen, soll ein ehemaliger Auftragskiller sein. Und zwar ein solcher Meister seines Faches, dass ihm sogar die Beseitigung seiner selbst gelang.
Cronenberg zeigt die Gewalt als Integrations-Problem: Wo der Sohn lernen muss, auch mal auszuteilen, um dazuzugehören, kann der Vater sich von der ihn einholenden Vergangenheit nur durch noch mehr Gewalt lösen. Als er am Ende zum Familientisch zurückkehrt, wirkt das wie eine zynische Ironisierung der früheren Idylle. Solange die Gewalt vor der Tür bleibt, kann im gemütlichen Zuhause das Brot gebrochen werden.
Wo Cronenbergs Analyse mit der Entblößung des Familienidylls zu kurz greift, wäre A History of Violence der eigentlich bessere Titel für Johnny To´s Election, in dem es tatsächlich um die Frage der Institutionalisierung von Gewalt geht. Eine Hong-Konger Mafiagesellschaft wählt traditionsgemäß alle zwei Jahre einen neuen Führer; der Wahl müssen alle Mitglieder zustimmen. Um die Zustimmung wird naturgemäß gekämpft, wenn es sein muss eben mit - Gewalt. Unzählige Adjutanten und Mittelsmänner werden in verschiedene Zweikämpfe geschickt, bis sich der vom Vorgänger gewünschte Kandidat durchsetzt und, vor allem, das zugehörige Machtsymbol, ein Zepter, an sich gebracht hat. In Election steht Tradition gegen Erneuerung und Johnny To zeigt sich als Konservativer mit der Überzeugung, dass nur die Kraft der Traditionen die Gewalt im Zaum halten kann; wenn Neuerer an die Macht kommen, bricht Horror aus, weil kein Ehrencodex mehr befolgt wird.
Auch am Ende von Election steht ein Familienbild, mit weniger ironischen als vielmehr bitteren Untertönen: Ein Vater mit seinem kleinen Sohn. Vor dessen Augen hat er gerade zwei Menschen eigenhändig umgebracht - übrigens fällt im gesamten Film kein einziger Schuss, die Gewalt ist stets eine handgreifliche -, nun bilden sie eine verschworene Gemeinschaft, in der keine Unschuld mehr möglich ist und die eine düstere Zukunft ahnen lässt.
Die gerechte Gewalt, das war schon immer eher das Ressort des Westerns. Tommy Lee Jones gelingt es in seinem Regiedebüt Die drei Beerdigungen des Melchiades Estrada das Genre für seine Zwecke zu revitalisieren: Ein junger Grenzpolizist von zu hitzigem Temperament erschießt versehentlich einen mexikanischen illegalen Viehhüter. Das Opfer war ein guter Freund des von Tommy Lee Jones selbst gespielten Cowboys Pete, der nun den Mörder als Geisel nimmt und ihn auf der Heimführung der Leiche nach Mexico Drecksarbeit verrichten lässt. Am Ende erfüllt sich Petes Mission: der Täter fleht am Grab seines Opfers um Pardon. Die Selbstherrlichkeit dieser Western-Gewalt, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt ist, kann man in Jones´ Film nur ertragen, weil sie so sicher im Genre verankert ist - und weil Jones darin einseitig für die Mexikaner Position bezieht.
Tommy Lee Jones´ Film war der Überraschungserfolg des Festivals, um so mehr, als Wim Wenders wenige Tage zuvor mit seinen Don´t come knocking zeigen wollte, dass der Western nicht mehr möglich ist. Wenders Film ist ein cineastischer Abgesang auf ein Lieblingsgenre, so durchdrungen von Trauer und Nostalgie, dass kaum mehr eine richtige Handlung sichtbar wird. Außer der einen: Ein Vater sucht den Sohn, von dem er nichts wusste. Wie viele Filme von Wenders gleicht auch dieser einer Tagträumerei, der Bebilderung einer Lieblingsfantasie des Regisseurs: Im Alter sich die Erben suchen, sehen, wie die Saat aufgegangen ist ... Lediglich Wenders immer noch vorhandene Fähigkeit zur Inszenierung von magischen Kinobildern schützt ihn vor dem endgültigen Abstürzen ins Peinliche. Wenders´ Film hatte allerdings nicht nur in Tommy Lee Jones einen direkten Genre-Konkurrenten, sondern auch in Jim Jarmusch.
In Jarmuschs Broken Flowers spielt Bill Murray einen Mann mit dem leicht lächerlichen Namen Don Johnston. Im Computerbusiness zu Geld gekommen, führt er ein müßiges Dasein und wird in der ersten Szene gleich von einer atemberaubenden Frau verlassen, die keine Lust hat "mit einem Don Juan in der Abstiegsphase" zusammen zu sein. Ein anonymer Brief benachrichtigt ihn von die Existenz eines 18-jährigen Sohns. Auf Anraten des Nachbarn erstellt Don eine Liste der als Mütter in Frage kommenden Freundinnen und macht sich auf die Reise. Die verläuft erlebnisreich aber ergebnislos. Am Ende betrachtet Don alle 18-Jährigen um sich herum mit Unruhe: Es könnte sich um seinen Sohn handeln.
Bei Jarmusch zeigt sich der Vorteil der Komödie, der doppelte Boden, der die Wunschfantasie als Fluch zurückkehren lässt. Bill Murray erweist sich hier ein weiteres Mal als Großmeister der minimalistischen Selbstironie und Jim Jarmusch als Guru des langsamen Timings; zusammen aber finden sie zu einer unnachahmlichen Leichtigkeit.
Tommy Lee Jones und Jim Jarmusch waren die Lieblinge des Festivals. Nur ein Film wurde für die Goldene Palme noch höher gehandelt: Michael Hanekes Hidden. Darin beginnt alles zunächst ganz harmlos: Ein Familienvater bekommt ein Video zugeschickt, auf dem sein Haus zu sehen ist. Nichts weiter, und doch sehr beunruhigend. Es folgen Kassetten mit Aufnahmen seines Elternhauses. Dann schließlich eine Wegbeschreibung, die zu einem Freund der Kindheit führt - und damit zu einer Geschichte von Schuld, Gewalt und missratener Vaterschaft. Wie die Aufnahmen des unbekannten Videofilmers ist Hanekes Film von einer gewissen Erbarmungslosigkeit durchdrungen; kalt beobachtet die Kamera ihr Objekt und seine Verstrickung, allerdings ohne zu verurteilen.
Haneke bekam den Regiepreis, die goldene Palme ging an den Film L´enfant der belgischen Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne. Anders als der Titel vermuten lässt, geht es auch in L´enfant um einen Vater, wobei der tatsächlich eigentlich mehr wie ein Kind ist. Der Film verfolgt mit rastloser Kamera die Wege des jugendlichen Bruno, der von kleinen Diebstählen lebt, in großer Unstetigkeit, mit der gewollten Fahrigkeit eines Belmondo aus Außer Atem. Wenn er kein so geschickter Dieb wäre, würde man ihn für geistig beschränkt halten. Seine Freundin Sonja hat ihm gerade ein Baby geboren, das sie Jimmy nennen. Ohne sie zu fragen, verkauft Bruno seinen Sohn an windige Geschäftsleute. Sonja kann ihm das nicht verzeihen. Anders als bei Haneke ist der Blick der Dardennes auf ihre Protagonisten nie erbarmungslos; auch für Bruno legen sie eine Art engagiertes Nachempfinden an den Tag, das diesen schließlich zu einem versöhnlichen Ende begleitet. Es ist diese Engagiertheit, die nie ins Kitschige abrutscht, die L´enfant sehenswert macht - und wahrscheinlich zur Goldenen Palme verhalf.
Obwohl man so etwas nie weiß. Denn eigentlich stand dieses Jahr schon am zweiten Tag des Festivals fest, wer die begehrte Auszeichnung bekommen sollte: Woody Allen für seinen Match Point. Nur dass der außer Konkurrenz lief. Allens Film handelt von den Winzigkeiten, die darüber entscheiden, ob etwas gut oder schlecht ausgeht. Das illustriert zu Anfang des Films ein Tennisball, von dem man nicht sieht, auf welcher Seite des Netzes er landen wird. Am Ende des Films aber weiß man nicht einmal mehr, ob ein gutes Ende nicht doch ein schlechtes ist.
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