Vertrauter Überdruss

Tschechow als Episodenfilm Michael Thalheimer inszeniert am Deutschen Theater in Berlin "Drei Schwestern"

Was sich in der Redewendung von der "tiefsten" Provinz ausdrückt, ist ein gefühltes Gefälle, das nicht in Höhenmetern zu vermessen ist: unten zu sein, kulturell, gesellschaftlich, geistig. Die Provinz ist kein idyllischer Ort, an dem die Grillen zirpen, sondern eher ein Verlies, aus dem es kein Entkommen gibt, das illustriert zumindest das Bühnenbild von Olaf Altmann in der Drei Schwestern-Inszenierung am Deutschen Theater: Hoch in den Bühnenhimmel ragende, hölzerne Paneelwände verkanten sich auf der Drehbühne zu unwirtlichen Räumen von beklemmender Leere. Hier wird kein Tisch zur Namenstagsfeier gedeckt, kein Tee serviert, kein Kreisel gedreht, wie wir das sonst so gewöhnt sind von den Drei Schwestern. Ohne Requisiten, aller Kinkerlitzchen des herkömmlichen Theaterspiels beraubt, wirken die üblicherweise durch Melancholie beseelten Tschechow-Figuren auf einmal wie Aufziehpuppen. In mechanischem Ton fangen sie an zu sprechen. Meist mit dem Rücken zur Wand, die Augen starr geradeaus, die Hände unbeweglich an der Seite sagen sie all die berühmten Sätze: "Nach Moskau! Nach Moskau!" Man hat sofort Mitleid mit ihnen. Gleichzeitig fällt es schwer, sie ernst zu nehmen.

Man sieht es auf den ersten Blick: Regisseur Michael Thalheimer ist ein Reduktionist. Den ganzen russischen Schlendrian, dieses Sich-Einrichten in der Traurigkeit, den dekadenten Genuss an den immer gleichen Klagen ("Ich sehne mich so nach Arbeit!"), all den Plüsch hat er weggenommen. Was bleibt, ist eine Art Verzweiflungsstarre. Sorgfältig in die sich drehenden Wände hineinchoreografiert, bekommt sie an vielen Stellen etwas unfreiwillig Komisches, wird zu einem etwas trägen Slapstick, über den zu lachen allerdings wenig Vergnügen bereitet. Gekleidet sind Thalheimers Tschechow-Figuren ganz im Modernitäts-Verlierer-Look, jener unspezifischen Mode von gestern, die uns heute unpassender und hässlicher vorkommt als die von vorgestern. Sie sehen allerdings eher so aus, als ob sie sich nach Paris, New York oder Tokio sehnten. Dass sie trotzdem noch "Moskau" ehrfurchtsvoll im Munde führen, macht sie ein bisschen merkwürdig.

Reduziert hat Talheimer zum einen in der Länge (es sind am Deutschen Theater gerade mal zwei Stunden und zehn Minuten ohne Pause) und zum anderen in der Breite; den Charakteren sind die Zwischentöne ausgetrieben. Die Schwestern sind fast nicht voneinander zu unterscheiden. Soljony kennen wir aus vergangenen Inszenierungen als hübschen Kerl mit unsympathischen Manieren, den aber nichtsdestotrotz eine düstere Romantik umgibt. Hier ist er nichts anderes als ein verhaltensauffälliger, hässlicher Glatzkopf. Auch Werschinin, diesem herzerwärmenden Schwätzer ("Wenn es schon keinen Tee gibt, lassen Sie uns ein wenig philosophieren!"), ist jeder Charme genommen, er findet sich zurückgestuft auf ein Dauergrinsen. Besonders schmerzlich aber wird die Schwundstufe an der Figur des Arztes deutlich: Als sympathischer alter Herr ist er uns vertraut, dessen geistige und professionelle Verwahrlosung umso mehr berührt, weil er eben noch so nett schien. Bei Thalheimer nervt er von Anfang an. So dass er sein Geständnis, eine Frau zu Tode kuriert zu haben, schließlich herausbrüllen muss, um eine Art von Steigerung zur erreichen. Es wirkt, als sei der Schauspieler, nicht die Figur, in Not.

Die allseitige Reduktion hat aber auch was. Man erkennt das Erfolgsrezept des Regisseurs. Aus allen vier Akten reiht er Sequenzen zu einem von wohltönender Musik zusammengehaltenen Episodenfilm aneinander. Wir sehen eine Art Best of Drei Schwestern. Die Drehbühne wird zum Zoom-Ersatz. Mit beeindruckendem Gespür für Timing werden Sätze in der Bühnenmitte begonnen, fahren die Schauspieler auf uns zu, kommen erst näher, drehen dann ab, um schließlich außer Sicht irgendwo hinter den Kulissen ihre Rede verklingen zu lassen. Die mitgedrehten Wände sorgen für den Schnitt-Effekt. Wo bei Tschechow Jahre vergehen, Kinder auf die Welt kommen und größer werden, gehen bei Thalheimer all diese Nichtigkeiten mehr oder weniger in einem Kontinuum der so geschaffenen Momente unter. "Wir sind ja gar nicht da, nichts gibt es auf der Welt, wir existieren überhaupt nicht, es scheint nur so, als existierten wir ... schließlich ist doch alles egal!" Das Gefühl der abgrundtiefen Nutzlosigkeit, von dem Tschechows Figuren beherrscht sind, überträgt sich in formaler Virtuosität auf die Inszenierung als ganzes. Und immer wieder dreht sich die Bühne und mit ihr drehen sich die Figuren, ohne dass je ein Dahinter sichtbar würde ...

Überhaupt inszeniert Thalheimer mit einer gewissen Grundstimmung des ennui, der gepflegten snobistischen Langeweile, als winke er uns müde zu: "Jaja, ich weiß, ihr kennt das alles schon, habt es oft genug gesehen!" Ein Blick auf den Samovar in den Händen des Doktors genügt, und schon ist uns das Gekreische der Schwestern in den Ohren: "Wie schrecklich!" Soljony läuft mit einer Pistole durchs Bild, wir wissen, es geht zum Duell mit Tusenbach und wir wissen auch schon, dass es gleich für Irina sehr schmerzhaft wird und der Doktor mal wieder nicht helfen kann. Weil wir das alles wissen, lässt Thalheimer konsequenterweise im letzten Akt die Worte gleich ganz weg. Eine der Mauern ist gefallen, endlich haben die Figuren eine Sitzgelegenheit; was sich sonst noch ereignet, können wir anhand der verschiedenen Kombinationen, wer sich neben wen setzt, erraten.

Als Kenner fühlen wir uns respektiert: Thalheimer will uns nicht mit noch einer elegischen Tschechow-Interpretation nerven. An vielen Stellen bringt er das Stück deshalb mehr in Stellungsvariationen in Erinnerung, als dass es gespielt würde. Allerdings erinnern wir uns gleichzeitig auch daran, wie sehr uns das alles schon einmal berührt hat. Ob Thalheimer damit gerechnet hat?

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