Von Scham überwältigt

Autofiktion Regisseur und Autor Sobo Swobodnik denkt in „Klassenkampf“ über die Unmöglichkeit des sozialen Aufstiegs nach
Ausgabe 40/2021

Man denkt immer, dass im Kino die Bilder den Vorrang haben müssten. Dass das eine viel zu enge Sicht auf die Kunstform Film ist, dafür ist Sobo Swobodniks Klassenkampf ein leuchtendes Beispiel. Swobodnik geht es weniger um Bilder als um Texte. Und zwar um solche ganz verschiedener Herkunft und Sorte: wissenschaftliche, essayistische und, am wichtigsten, autobiografische. Im Zentrum steht dabei auf sehr natürliche Weise die Geschichte seiner eigenen Herkunft. Um sie herum organisiert Swobodnik sein philosophisches und soziologisches Material, und wie in den besten Essays gelingt es ihm, die eher theoretischen Texte mit den persönlichen so zu verbinden, dass die einen die anderen bestärken und umgekehrt die subjektive Erzählung Farbe in die objektiven Bestandsaufnahmen bringt. Das alles zusammenhaltende Thema ist so klar wie vieldeutig und mit dem Titel Klassenkampf ein bisschen provokativ angegeben: Es geht um sozialen Aufstieg und die Spuren, die er im Leben der einzelnen hinterlässt.

Das Material, das Swobodnik hier zusammenbringt, ist alles andere als unbekannt. Einerseits zitiert er aus Werken von Sigmund Freud bis Pierre Bourdieu, andererseits „hört“ man Autoren wie Didier Eribon, Annie Ernaux und Daniela Dröscher oder Soziologen wie Klaus Klemm oder Michael Hartmann ihre Thesen darlegen. „Hören“ in Anführungsstrichen, weil Swobodnik nicht die Originalstimmen vorspielt, sondern sie nachinszeniert, wobei sämtliche Rollen von ein und derselben Schauspielerin verkörpert werden: Margarita Breitkreiz. Das mag nach kuriosem Slapstick klingen, entwickelt aber in Swobodniks Film einen erstaunlichen Ernst.

Wie überhaupt der Film eine erstaunliche Wirkung entfaltet. Im Intro raunt die Märchenonkelstimme von Lars Rudolph zu rätselhaften Schwarzweißbildern etwas über die Rückkehr in die Heimat, die ein Wiedersehen mit einem negierten, konservierten Selbst darstelle.

Den Dialekt abtrainiert

Aber bald steht da Margarita Breitkreiz in gleich dreifacher Ausfertigung in der guten Stube des ehemaligen Elternhauses und haut mit dem Vorschlaghammer die gläsernen Bilderrahmen an der Wand kaputt. „Wer ein Haus baut, macht keine Revolution“, zitiert eines ihrer Alter Egos Adenauer dazu. Und da schon möchte man unbedingt mehr wissen, über die ostalbschwäbische Provinz, aus der Swobodnik kommt, und darüber, welche Gedanken ihn so überfallen, wenn er als „durch Bildung Aufgestiegener“ dahin zurückkehrt.

Breitkreiz ist das multiple Stand-in für den Regisseur und Autor Swobodnik, und auf ihre wunderbar kraftvolle und originelle Präsenz geht ein guter Teil der Wirkung des Films zurück. Es ist nicht immer eine dankbare Rolle, die Breitkreiz hier übernommen hat. In den verschiedensten Umgebungen, Außen- wie Innenaufnahmen, agiert sie die Texte mehr aus, als dass sie sie nachspricht. Man sieht sie schwimmen und Fahrrad fahren oder in der Erde wühlen. Immer wohnt ihren Tätigkeiten vor der Kamera auch ein Rätsel inne. Mal hört man ihre Stimme dazu aus dem Off, mal spricht sie mit sich oder ihren anderen Ichs. Beim Stichwort „ostalbschwäbisch“ verhaspelt sie sich immer wieder, und der Film lässt es stehen, weil es so viel Sinn ergibt: die Herkunft als Klotz am Bein, der einen immer wieder stolpern lässt. Davor noch hatte das durch Breitkreiz vertretene Erzähler-Ich davon berichtet, wie es sich den schwäbischen Dialekt nach dem Wegzug zum Studium nach München binnen einen Jahres abtrainiert hat.

Swobodniks autobiografischer Text ist voller einschlagender Beobachtungen. Er erzählt von der inhärenten Fremdenfeindlichkeit der schwäbischen Provinz und vom Sicherheitsdenken der eigenen Eltern und ihrem Fetisch, dem „geregelten Einkommen“, das alle Erwägungen einer möglichen Zukunft für den Sohn prägte. Gute Noten ermöglichten ihm den Aufstieg zur Realschule und schließlich das „Abitur auf dem verhassten Wirtschaftsgymnasium“. Dabei denkt er darüber nach, wie seine eigene Politisierung mit Antiatomkraft- und Friedensbewegung sich aus dem Protest gegen die angepasste Haltung seines Elternhauses ergab. Und schließt ein Annie-Ernaux-Zitat unmittelbar an: „In die Stadt gehen, träumen, sich selbst befriedigen und warten, die mögliche Zusammenfassung einer Provinzjugend.“

Für alle, die Ernaux und Eribon und darüber hinaus gelesen haben, mag Swobodniks Film kaum wirklich Neues zum Thema hinzufügen. Aber Dinge wie das Dilemma der Entfremdung oder das euphorische Verhältnis zu Kunst und Kultur, das für den Aufsteiger einer „Konversion zu einer säkularen Religion“ gleichkommt, sind so vielgestaltig, dass die erneute Beschreibung trotzdem lohnt. Genauso das Thema der gleich zweifachen Scham, die den Bildungsaufsteiger verfolgt: der Scham nach oben, weil man beim sozialen Aufstieg eben doch nie wirklich ankommt, und der Scham nach unten, die sich oft genug gegen die eigenen Eltern wendet.

An einer Stelle erzählt Swobodnik vom Umzug nach Berlin – „innerhalb Deutschlands der größtmögliche Kontrast zur ostalbschwäbischen Provinz“ – und wie ihn dort seine Eltern noch besucht haben. Als er sie am S-Bahnhof Friedrichstraße stehen sah, erinnerten sie ihn an „zwei 70-Jährige vom Arsch der Welt, aus Usbekistan zum Beispiel oder der Mongolei, die noch nie in der Großstadt waren“. Er fand sie belustigend, aber bei dem Gedanken, sie als seine Eltern outen zu müssen, habe ihn Scham überwältigt. Das wiederum ist ein so starkes Bild, dass es sich fest ins Gedächtnis eingräbt.

Info

Klassenkampf Sobo Swobodnik Deutschland 2021; 79 Minuten

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