Wahre Gefühle

Im Kino Todd Haynes imitiert mit »Dem Himmel so fern« das Melodram der fünfziger Jahre so präzise, dass aus der Nachahmung ein Original wird

Der Titel - Dem Himmel so fern - sagt viel, wenn auch nicht alles. Erstens wissen wir, dass die Geschichte nicht in der gottlosen Gegenwart spielen kann, sondern in einer Zeit handeln muss, als noch eine gewisse Ordnung herrschte, ein sittliches Oben und Unten, das den »Anstand« definierte. Zweitens ahnen wir, dass es nicht gut enden wird, denn wie immer gottlos die Gegenwart auch sein mag, die Bedeutung von Redewendungen, die das Glück im Himmel und das Unglück weit weg davon verorten, sind uns doch noch geläufig. Drittens wissen wir, dass das Glück am Ende »so fern«, das Unglück also erheblich sein wird, was wiederum bedeutet, dass große Gefühle im Spiel sein werden. Und viertens begreifen wir intuitiv, dass es bei all dem nicht um inhaltliche Fragen geht, sondern um Stil, um aus der Mode gekommene Ausdrucksformen. Denn ein Titel wie Dem Himmel so fern bringt weniger die Erinnerung an eine konkrete zeitgeschichtliche Epoche zurück als vielmehr an eine Ära der Kinogeschichte, in der vergleichbar großformatige Benennungen mit biblischem Anklang auf Filme einstimmten, in denen ganze Leben auf den Prüfstand gestellt wurden, man vor keiner moralischen Frage zurückscheute und mit denen vor allem die weiblichen Zuschauer zum gemeinschaftlichen Weinen geradezu herausgefordert wurden.

Todd Haynes´ Film enttäuscht die geweckten Erwartungen keineswegs. Julianne Moore spielt Cathy Whitaker, die anfangs perfekte Hausfrau im perfekten Heim mit perfekter Familie, deren Ehe zerbricht und deren Aussicht auf eine neue Liebe von der Gesellschaft unmöglich gemacht wird. Es sind die fünfziger Jahre im vorstädtischen Amerika, noch heute eine Art verlorenes Paradies der Werbespots dieser Welt. Konsumartikel und Haushaltswaren, nie sind sie schöner und heiterer inszeniert worden als im Jahrzehnt des ungebrochenen Fortschrittsglaubens und der unhinterfragten Anpassung.

Als identisch mit einem Werbespot stellt uns der Film denn auch das Ehepaar Whitaker zu Beginn vor, als »Mr. und Mrs. Magnatech«, die Idealfamilie zur Fernsehfirma, in der Cathys Gatte Frank arbeitet. Das große Haus, die artigen Kinder, der üppig mit Farben ausgestattete Hintergrund - in jeder Hinsicht scheint der Film so dick aufzutragen, dass es den heutigen Zuschauererwartungen nach nur auf eine Parodie hinauslaufen kann. Das Erstaunliche an Haynes´ Dem Himmel so fern ist nun, dass die Wendung ins Ironische ausbleibt, und dass wir Zuschauer im Verlauf des Films ganz vergessen, dass wir sie erwartet haben - und im Gegenteil am Ende verstohlen unsere Taschentücher zücken, voll Rührung über Cathy und wie sie da alleine am Bahnhof zurückbleibt, während der Mann, mit dem sie vielleicht hätte glücklich werden können, auf Nimmerwiedersehen davonfährt.

Schon die Stilübung als solche beeindruckt natürlich an Haynes´ Regiearbeit: einen Film zu machen, an dem alles so aussieht und so klingt wie im Fünfziger-Jahre-Schnulzen-Kino, von den Kamerabewegungen bis zur Farbgebung, von der Musik bis zu den Dialogen. Aber weit mehr noch verblüfft an dieser stilistischen Zeitreise, wie es ihm gelingt, auch uns, die Zuschauer mitzunehmen und dazu zu bringen, ganz anachronistisch mit Rührung zu reagieren auf einen so ganz und gar nicht zeitgemäßen Film. Der dazu noch mit unterdrückter Homosexualität und offenem Rassismus Probleme behandelt, von denen wir glauben, dass wir seit den fünfziger Jahren in der Lösung um Wesentliches weiter gekommen sind.

Darin nämlich unterscheidet sich Haynes scheinbares Remake von seinen Vorbildern: er gibt dem Kino, das er imitiert, einen Ernst zurück, den man den Filmen von damals nur noch schwer glauben kann. Sie stehen - außer bei Cineasten - unter dem Generalverdacht, auf »billige Weise« zu rühren. Was nichts anderes heißt, als dass sie die reizstarken Mittel der Populärkultur einsetzen, um ihr Publikum zu erreichen: schematische, wiedererkennbare Konflikte, die in ihrer emotionalen Wirkung tragisch verdichtet werden und ganz unverhohlen auf die Tränendrüse zielen. Oft ist es gerade diese Direktheit, die heute unwillkürliches Lachen hervorruft.

Vor Jahrzehnten schon hat Rainer Werner Fassbinder mit seiner erklärten Vorliebe für Douglas Sirks Filme Impulse gesetzt, diese überladenen Ausdrucksformen nicht zu ächten - und auch ihre Raffinesse nicht zu unterschätzen. Ihm habe es an Mut gefehlt, gab Todd Haynes in einem Interview zu Dem Himmel so fern an, sonst hätte er wie Fassbinder bei Angst essen Seele auf sein Sirk nachempfundenes Melodram in der Gegenwart angesiedelt. Aber wie Fassbinder ja auch, erzählt Haynes mit seinem Film keine beliebige Geschichte im Stil der Fünfziger, sondern eine, die man anders vielleicht gar nicht erzählen könnte.

Denn in eben den überbordenden Ausdrucksformen, dem Altmodischen der Schnittfolge, der theatralen Kameraführung, findet der Zwang zur Anpassung, der die erst beginnende Liebe der weißen Cathy zum schwarzen Gärtner Raymond im Keim erstickt, seine kongeniale und doppelbödige Entsprechung. Die vergleichsweise abgegriffene Geschichte vom weiblichen Verzicht aufs individuelle Glück bekommt durchs Dekor erst Plausibililtät, weil auch dort alles nach Anpassung und Übereinstimmung strebt.

In ihrem ganz ehrlichen Bemühen, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen, die perfekte Hausfrau, Mutter und Gastgeberin zu sein, wird Cathy - für deren Darstellung Julianne Moore eine Oscar-Nominierung erhielt - dabei auf paradoxe Weise zur Antiheldin, deren besonderer Charme in ihrer großen Anpassungsfähigkeit liegt: Lange schon haben wir uns nicht mehr mit einer so positiven Gestalt identifizieren dürfen. Sie ist der absolute Gegenentwurf zu jenem schematisch gewordenen Nonkonformismus, der sonst die Kino-Helden prägt. Die Figur wiederholt die Geste des Films: So wie sie Mode und Umgangsformen ihrer Zeit in Perfektion umsetzt bis sie ihrem Empfinden untertan werden, findet er in der perfekten Nachahmung zu seiner eigenen Sprache.

An einem entscheidenden Punkt bewegt sich der Film allerdings weit weg von seinen Vorbildern und das ist die Deutlichkeit, mit der die Konflikte gezeigt werden. Wo die Melodramen der Fünfziger sich in Andeutungen ergehen oder absichtsvoll verschleiern, lässt Haynes klar hervortreten: Cathys Ehemann Frank (Dennis Quaid) kann und will schließlich seine Homosexualität vor seiner Ehefrau nicht länger verbergen. Was nicht heißt, dass sie darüber reden könnten. Haynes´ Film zeigt im Gegenteil genau die Sprachlosigkeit, mit der die Eheleute zuerst versuchen, das Problem zu ignorieren, dann es vom Experten behandeln zu lassen, um sich schließlich ohne jede Aussprache zu trennen. Die Homosexualität des Mannes bleibt etwas letztlich Unaussprechliches, höchstens im medizinischen Kontext als krankhafte Erscheinung benennbar. Was auf der anderen Seite paradoxerweise bedeutet, dass sie lebbar ist, wenn auch in Nischen, im Verborgenen. Frank sehen wir in einer Einstellung mit seinem Liebhaber eine Wohnung teilen. Es ist, als könnte sich über das Unaussprechliche auch niemand lauthals empören. Was für den Rassismus in der Gesellschaft nicht gilt. Denn für Cathy gibt es am Ende keine Nische, nirgends, in der ihre Liebe zum schwarzen Raymond lebbar wäre. So holt sie der Fluch der Anpassung doch noch ein.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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