Wann ist ein Mädchen ein Mann?

Kino Lucia Puenzos Debütfilm "XXY" mit großartiger Hauptdarstellerin behandelt Intersexualität als Zwitter von Mythologie und Aufklärung

Deutlicher als mit der trockenen Ausdrucksweise aus dem Genlabor lässt es sich kaum sagen: In XXY geht es um eine junge Person, die ein Geschlecht zuviel hat beziehungsweise zwischen den Geschlechtern steht. "Intersexualität" nennt man das heute, von "Hermaphroditen" sprach man in Fortsetzung antiker Mythenüberlieferung früher. Der Begriffswandel spiegelt die sich verändernde Haltung zum Phänomen wider: Wo einst mythisiert und romantisiert wurde, herrscht heute instrumentelle Sachlichkeit vor. Ein Hermaphrodit war etwas Außerweltliches, Sagenhaftes, vielleicht verflucht, vielleicht gesegnet, auf jeden Fall ein tragisch-heroisches Schicksal, ein Intersexueller steht unter therapeutischer Beobachtung und vor der Entscheidung, vom Chirurgenmesser sein "Schicksal" bestimmen zu lassen.

Die Situation vor dieser Entscheidung hat sich die argentinische Drehbuchschreiberin Lucia Puenzo als Ausgangspunkt für ihren Debütfilm gewählt. Was aussieht wie ein Familienbesuch - ein Paar mit pubertierendem Sohn fährt zu einem anderen Paar mit pubertierender Tochter - stellt sich als ärztliche Visitation heraus. Vor Jahren schon sind Kraken und Suli mit ihrer Tochter aus Buenos Aires weg an die einsame Küste Uruguays gezogen, nun hat Suli Erika und Ramiro eingeladen, weil letzterer als Schönheitschirurg Erfahrungen mit Geschlechtsumwandlungen hat. Sie hat es mit niemandem vorher abgesprochen, was sowohl ihren Mann Kraken als auch Alex, die "Betroffene" in die Lage versetzt, zunächst nur zu erspüren, was dieser Besuch eigentlich will. Dem Zuschauer geht es ähnlich.

Erst nach und nach also weiht uns der Film in die volle Problemlage ein. Alex kam in Buenos Aires als Zwitter zur Welt, Kraken und Suli haben tapfer den Ratschlägen widerstanden, dem Kind durch Operation ein eindeutiges geschlechtliches Aussehen zu verleihen. Sie wussten schon damals, dass die Sache mit den Merkmalen und der Identität nicht so simpel ist. Die erste Entwicklungsstufe der Säugetiere ist die weibliche, und so wurde Alex zunächst als Mädchen erzogen; die Einnahme von Cortisol hielt zusätzlich den Einfluss der männlichen Hormone im Zaum. Der Umzug nach Uruguay sollte vor der Neugier und Zudringlichkeit der Umgebung schützen. Nun aber, mit Einsetzen der Pubertät, wird in Alex die männliche Seite immer aktiver, auch hat sie keine Lust mehr, täglich Pillen zu schlucken. Als sehr jungenhaftes Mädchen macht sie ihre ersten Erfahrungen mit der Intoleranz und dem Unverständnis ihrer Umwelt. Aber will sie wirklich ein Mann werden? Oder doch noch eine "richtige" Frau?

So modern und aufgeklärt der Film einerseits ans heikle Thema herangeht, so düster-romantisierend sind die Bilder, in denen er erzählt. Die uruguayische Küste, die ihm als Kulisse dient, ist ein Ort von wilder, aber unwirtlicher Schönheit. Oft verhärten sich die Gesichter der Figuren zusätzlich im starken Gegenwind, die Sonne, wenn sie scheint, bringt kaum Farben hervor, sondern vertieft nur die Kontraste. Im Mittelpunkt der kargen Szenerie steht immer wieder Alex, ihre schmale Gestalt mit den noch wenig ausgeprägten weiblichen Rundungen und dem eindringlichen Gesicht mit großen Augen. Tatsächlich begnügt sich der Film über weite Strecken damit, sie in irgendeiner Weise brütend durch die bewaldeten Dünen laufen zu lassen. Und erstaunlicher Weise sind das die intensivsten Momente des Films, weil die junge Darstellerin Ines Efron das Kunststück vollbringt, den Konflikt ihrer Figur ganz in Körpersprache umzusetzen. Schon in ihrer Art zu gehen, macht sie die innere Zerissenheit kenntlich, das Extreme und Absurde ihrer Position, die sie zu einer Entscheidung zwischen zwei Wegen zu zwingen scheint, und der verzweifelten Suche nach einem dritten.

Dank Ines Efron verzeiht man dem Film so manchen Drehbucheinfall. Dass Kraken, Alex´ Vater als Biologe gleich zu Beginn das Geschlecht einer Meeresschnecke bestimmt zum Beispiel - als sei bei einem Film mit dem Titel XXY noch eine sanfte Einführung ins Thema nötig. Oder die Einstellung, in der Suli, ihre Mutter, mit flinker Hand eine Karotte zerschneidet - eine viel zu plumpe Symbolik für das, was hier tatsächlich verhandelt wird. Gehört doch zu den unbedingten Stärken des Films, dass Alex ihre Sexualität nicht nur symbolisch, sondern ganz konkret ausleben darf. Ihre Erfahrungen mit dem ersten Mal zeigen: Selbst mit eindeutigen Geschlecht ist die Sache mit dem Sex nicht gerade einfach.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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