Wer besteht den Herztest?

Was läuft Barbara Schweizerhof über "This Is Us“ und nicht ganz so gute Serien. Spoiler-Anteil: 3 Prozent
Ausgabe 06/2018

Die zeitliche Überforderung ist einer der am meisten beklagten Nebeneffekte des Serienbooms. Aber mindestens so schwer wiegt die Überforderung mit Qualität: Man kann gar nicht so viel wertschätzen, würdigen und als originell wahrnehmen, wie in den letzten Jahren aus allen Kanälen fließt. Der Backlash sieht so aus: Die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ wächst. Nach damals, als Fernsehen Zeitverschwendung und kein Kulturereignis war, man Serien im Wochenrhythmus schaute, einfach weil man dienstagabends nichts Besseres zu tun fand.

Natürlich gab es damals schon dezidiert „gute“ Serien wie ER, aber man fand sich auch bei Mariele Millowitsch und ihren Girl Friends ein oder am Melrose Place, oder kennt jemand noch Alle meine Töchter?

Nicht, dass man sich die nun als DVD besorgen und nachsichten müsste, nein, ich will aufs Gegenteil hinaus: auf das verschwenderische, vollkommen vergängliche Vergnügen des Non-Must-TV. Serien, die man gucken kann, aber nicht muss. Serien, die einen nicht übermäßig über ihre Sendezeit hinaus beschäftigen, einen dafür aber auch nicht enttäuschen, wenn manche Folgen oder gar Staffeln nicht das halten, was man sich anfangs versprochen hatte. Für die einen ist das der Grund, warum sie noch bei der 14. Staffel von Grey’s Anatomy einschalten, andere gucken Nashville weiter, obwohl sich mit Connie Britton das Herz der Serie verabschiedet hat.

Das Stichwort Herz ist wichtig. Denn für den Effekt der erholsamen Zeitverschwendung bedarf es einer gewissen emotionalen Affinität. Das „Must“ beim Non-Must-TV heißt: Man muss die Figuren mögen, der Plot ist weniger wichtig. Am schönsten ist, wenn es trotzdem gut gemacht ist.

Wie bei This Is Us, einem der großen Erfolge unter den neu gestarteten Serien im vergangenen Jahr, mehrfach nominiert für Emmys und Golden Globes und wie üblich bei der deutschen Free-TV-Ausstrahlung gescheitert. Die abgeschlossene erste und die im Herbst neu gestartete zweite Staffel gibt es auf diversen Streamingkanälen.

This Is Us handelt von Familie, das ist schon mal der erste Garant für Emotionen. Zu Beginn wurden die drei Geschwister Kate (Chrissy Metz), Kevin (Justin Hartley) und Randall (Sterling K. Brown) vorgestellt – und zwar an ihrem 37. Geburtstag. Das Konzept der Serie präsentierte sich mit einer Reihe überraschender Wendungen: Kate, Kevin und Randall sind nämlich Drillinge – und das, obwohl Kate übergewichtig, Kevin gutaussehend und Randall schwarz ist. Auf die Welt kamen sie am 37. Geburtstag ihres Vaters Jack (Milo Ventimiglia). Die gesamte erste Staffel wechselte zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin und her, betrachtete aus mehreren Perspektiven sowohl den Tag der Geburt als auch verschiedene Stadien des Aufwachsens und immer wieder die Gegenwart, in der Vater Jack nicht mehr am Leben, aber Mutter Rebecca (Mandy Moore) mit dessen bestem Freund Miguel (Jon Huertas) verheiratet ist.

Obwohl das Konzept der Zeitsprünge mit ihren Nach-und-nach-Enthüllungen (wann und wie ist Jack verstorben? Wann und wie scheiterte Kevins Footballer-Karriere? Entstand Kates Übergewicht? Wurde aus Randall ein Vorzeigeschüler mit Vorzeigefamilie?) ehrgeizig klingt, sind es in Wahrheit die konventionellen Seiten der Serie, die sie attraktiv machen: Man kann sich sicher sein, dass es erst mal keiner der Hauptpersonen so schnell an den Kragen gehen wird. Was den Figuren zustößt, bewegt sich im Rahmen des Alltäglichen, Nachvollziehbaren. Die Zentralachse allen Redens und Tuns sind die Beziehungen als solche – die der Geschwister untereinander und die zu den Eltern. Und in jeder Folge kommt mindestens ein Punkt, der selbst dem abgebrühten Zuschauer feuchte Augen macht.

Man kann This Is Us für vieles loben: für die psychologische Plausibilität der Figuren, für das Zulassen ambivalenter und widersprüchlicher Gefühle und zuvorderst für die charismatischen Darsteller. Aber es ist der Tränenfaktor, der den entscheidenden Ausschlag gibt. Nicht jeder mag es, zu Tränen gerührt zu werden, manche halten das für ein Indiz einer gewissen Minderwertigkeit in der Tradition kunstsinniger Verachtung für „verlogene“ Affekte.

Für andere stellt das „mal so richtig gut weinen können“ eine Art Oase dar. Endlich mal nicht so viel nachdenken zu müssen, sondern fühlen zu dürfen! This Is Us eignet sich hervorragend dafür, auszuprobieren, zu welchem Typ man selbst gehört.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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