Die Schönheit Cluesos

Erfurt Mag sein, dass der Sänger schön ist, weil er uns als normal erscheint.

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Mit Einkaufstaschen kam meine Mitbewohnerin in die Wohnung rein und sagte, sie hätte eben Clueso auf seinem Skateboard gesehen. Ich wohnte schon seit acht Monaten in der Erfurter Altstadt und hatte ihn kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Als ich es dann erwähnte, versuchte sie, mich mithilfe einiger Musikvideos in die Welt des Sängers einzuführen.

Wie ich ihn persönlich finde, wollte sie später wissen. Meine Meinung kann hier egal sein, es geht um Grundsätzlicheres: Cluesos Beliebtheit bei Bekannten und Freunden und den Schlüssel – jenseits des effektiven Marketings – zu seinem Erfolg.

Auf der Suche nach Antworten habe ich mir vieles angeschaut, angehört, angelesen: auf YouTube und Instagram, in einem Buch und in verschiedenen Kommentarspalten. Ein paar Wochen lang. In Montreal stehe ich heute noch morgens nicht selten mit einem Ohrwurm seiner Melodien auf und ertappe mich manchmal dabei, kleine Rapper-Handbewegungen beim Hundespaziergang zu machen.

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In der Thüringer Landeshauptstadt kennt man ihn oder zumindest jemanden, der ihn kennt. Clueso ist ihr stolzer Sohn. Er wurzelt in Erfurt und ist im dortigen Zentrum sesshaft. Als Teenager machte er Breakdance in der Tanzschule Traut – wo andere vor der Jugendweihe Tanzunterricht nahmen und später durch Tanzen etwas Schwung in ihre Beziehung zu bringen versuchten. Mit seiner Musik ist er deutschlandweit berühmt geworden. Erst Rappiges, dann Melodisches, auf Deutsch.

Wie kann man ihn beschreiben? Er ist Anfang vierzig (1980) und gehört zu denjenigen, die jünger aussehen, als sie sind und die das Älterwerden akzeptabel machen. Er hat noch manche Züge eines Kindes – einen stets leicht geöffneten Mund, der an eine Kinderschnute erinnert – und schon die etwas müden Augen eines reiferen Mannes. Er trägt die Haare kurz, dazu Streetwear und Sneakers. Er ist gepflegt, clean halt. Er hat kein Tattoo oder zumindest kein sichtbares.

Am Fr., 1. Mai 2020 um 14:49 Uhr schrieb Theriault Barbara <barbara.theriault@umontreal.ca>:


Habe gerade Clueso gesehen und musste an Dich denken! Grüße aus Erfurt

Envoyé de mon iPhone

Als ich ihn endlich erblickte, schrieb ich diese kurze Nachricht einer Freundin, die mal ein wahrer Clueso-Fan war. Mit anderen Menschen, die durch seine Erscheinung leider verblassten, stieg er gerade aus einem neutralfarbenen Mini Cooper. Sie hielten an, als sie Bekannte vor einem Kulturzentrum, wo früher ein Plattenladen war, erkannten. Er machte einen Handschlag als Begrüßung und wir Passanten fühlten uns für einen Moment wie in einem Musikvideo.

Xxxx Xxxxxx Xxxxxx <xxxxxxxxxxxxxx@gmail.com>

samedi 2 mai 2020 à 12:05

Ach, wie toll! Traummann ;-)

Dieser flüchtige Moment war der glückliche Anlass, Kontakt mit der Freundin aufzunehmen, die inzwischen verheiratet und schwanger war, bei einer Bundesbehörde arbeitete und immer noch so begeistert von Clueso war.

„Was magst du an ihm?“

„Er ist so schön, vielleicht ein bisschen zu klein,“ gab sie zu, um gleich korrigierend hinzufügen: „Er ist aber nicht breit, er wirkt größer.“

Und vor allem: „Er ist total lustig, er kann viel Zeugs erzählen, z. B. Udo Lindenberg nachmachen. Auf seinen Konzerten haben wir immer viel gelacht.“

Das unterstrich auch sachlich ein anderer Freund bei einer Autofahrt: „Er redet viel beim Konzert. Er erzählt immer etwas, vom Leben – nicht wie Rammstein oder andere Bands.“

Die Freundin erklärte: „Seine Musik ist eine Mischung aus Hiphop und coolem Rap. Es ist kein scheiß Gangster-Rap; er spricht vom Alltag, nicht von toxischer Maskulinität.“

Es stimmt. Seine Musikvideos präsentieren keine hypersexualisierten Frauen, ohne ein Statement daraus machen zu wollen. In Interviews ist Clueso zwar direkt, jedoch nicht vulgär.

Seine Musik sei heute ruhiger, mehr Mainstream; früher – als er vielleicht auf Jugendweihefeiern aufgetreten ist und später in Thüringer Clubs – sei er mehr Rapper gewesen, aber nicht komplett. Die Musik sei heute noch gut, kommentierte noch die Freundin.

Als ich auf seine gesunde Lebensführung zu sprechen kam (es scheint, als trinke er keinen Alkohol oder rauche nicht), wies sie darauf hin, dass er früher gekifft habe. Er habe aber mal beim Konzert gesagt, die Zeit sei vorbei. Auf Videos und Fotos sieht man ihn oft beim Kaffeetrinken, ein Getränk, das für Geselligkeit und – des Koffeins wegen – für Arbeit und lange Nächte steht.

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Wenn man mithilfe einer Software Tausende Bilder von Gesichtern übereinanderlegt, findet man – so habe ich mir sagen lassen –, was als Schönheit allgemein betrachtet wird. Man möge, so die Beobachtung, ein „Durchschnittsgesicht“. Ein solches computergeneriertes Bild würde vermutlich keinem Menschen entsprechen – wie ein Bekannter, den man doch nicht kennt, oder nur fälschlicherweise zu kennen meint. Ich weiß nicht, ob eine solche Software tatsächlich existiert. Wenn ja, spuckt sie vielleicht das Bild von Thomas Hübner alias Clueso aus, ein zweifellos schönes Bild, aber ohne besonderes Kennzeichen.

Mag sein, dass Clueso schön ist, weil er uns als normal erscheint. Schön, aber nicht zu schön, ein – was die Beauty-Literatur stets betont – sowohl subjektiv als auch objektiv selten erreichtes Gleichgewicht. Der Sänger ist so normal, dass er besonders wird.

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Zur ästhetischen Dimension mag noch einiges zum Reiz Cluesos beitragen, z. B. seine Bindung an seine Heimatstadt. Nicht, dass er in Erfurt lebt ist wichtig (das tun 214.416 andere Menschen auch), sondern dass er weiterhin dort lebt. Das gilt als bodenständig und wird ihm hoch angerechnet. Bekannte und Unbekannte werden nicht müde, es zu betonen: Trotz Erfolg und Prominenz bleibt Clueso in seiner Heimat, einer Stadt, deren mittlere Größe für manche als genau richtig gilt, während sie für andere zu eng ist. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass viele die Stadt verlassen. Ein dortiger Kulturschaffender erklärte mir, dass er sich freue, wenn junge Menschen bleiben, die „was drauf“ haben, denn er habe schon so viele weggehen sehen. Und weil er selbst geblieben ist, fühlt er sich genötigt, eine Liste von Gründen hinzuzufügen ...

Zu seinem Wohnort wird Clueso regelmäßig befragt: „Wieso er nicht in Berlin lebt?“ Dass er sich rechtfertigen muss, deutet auf eine leichte Ambivalenz oder Kritik hin. Er nimmt seine Alben in Köln und Berlin auf. Und er war schon weg, drei Jahre in Köln. Kam aber wieder. Im Fernsehinterview kommentiert er es so: „Es war wie ein langes Wochenende.“ Vielleicht um diesem Rechtfertigungszwang zu entkommen und damit der Sache einen Punkt zu setzen, hat er ein Lied darüber geschrieben.

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Clueso ist nicht nur in der Stadt geblieben, er ist auch auf dem Boden geblieben. Dank des Raps – ein Genre, das Laien das Musikmachen ermöglicht – und Kraft widersetzt er sich soziologischen Theorien und Determinismen. Es handelt sich um einen Glücksfall, den eines Menschen „von unten“ – einem autodidaktisch gelernten Musiker –, der etwas ist und genauso sein darf, wie er ist. Er bewegt sich in mehreren Welten, duzt alle, ohne dass es merkwürdig oder peinlich wäre oder polarisieren würde. Man sieht ihn und es entsteht der Eindruck, er könnte ein Freund, ein guter Kollege sein. Man zweifelt nicht an seiner Authentizität. Das macht ihn sympathisch, cool irgendwie.

Das Sympathisch-Sein zeichnet Clueso aus und scheint eine der meistgeschätzten, aber unterbelichteten Eigenschaften unserer Zeit zu sein. Dies gilt für viele Bereiche. Wichtig ist es z. B., eine angenehme Kollegin, ein zugänglicher Lehrer oder eine verbindliche Freundin zu sein.

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Sympathisch sein kann auch als „bloß nett“ gedeutet werden. Dem ist die Kulturkritik nicht entgangen. Und so ist es bei Clueso: Er sei, so heißt es zuweilen, unpolitisch und seine Musik weichgespülter Pop.

Seine Lieder – er selbst sagt „Songs“ – sind zugegeben nicht politisch. Sie sprechen ein unbestimmtes Du an und feiern die Freundschaft. Und in vielerlei Hinsicht stellen sie die Sehnsucht einer breiten Mitte der Gesellschaft dar. Möglich, dass Clueso sich gegen diese Annahme wehren und von der Mitte abgrenzen wollen würde, aber seine Songs treffen den Nerv der Zeit. Dass viele Menschen sich in ihnen wiederfinden, liegt wohl daran, dass sie etwas ausdrücken, wonach sie implizit oder halbbewusst träumen. Als ich beschäftigte und gestresste Frauen und Männer aus der Mitte der Gesellschaft fragte, was sie sich als Tattoo stechen lassen würden, war ihre Antwort auf das moderne Tempo „Gelassenheit“. Meine Frage war hypothetisch. Meine Gesprächspartner*innen wollten partout kein Tattoo, aber über ein Sweatshirt mit der Inskription „Flugmodus“ aus Cluesos Online-Shop hätten sie sich sicher gefreut. Flugmodus heißt eben, in Cluesos Sprache übersetzt, Gelassenheit.

Seine Lieder und das von ihm herausgebrachte Buch (Clueso. Von und über[1]) handeln von Unruhe, Bodenlosigkeit, Suche nach Haltung und Antworten, von dem Wunsch nach Freiheit und vom Loslassen. Einer Ungewissheit der Zukunft gegenüber prognostizieren Cluesos Songs einen positiven Ausgang. „Es ist alles ok“ verspricht der Refrain von Flugmodus. Mag sein – und er deutet selbst in Interviews darauf hin –, dass die Stadt, die Freunde, die Leute von früher ihn auffangen, ihm Halt bieten.

Sollten die Kulturkritiker Recht haben und manche der neueren Songs sich kurz vor der Grenze zum Schlager bewegen oder sollte es manchmal zu melancholisch und sentimental zugehen, kann man sich eins vergegenwärtigen: Viel kann gesungen werden, was man nicht sagen könnte.

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Clueso gibt der Stadt Erfurt mitunter ihren Namen; und sie nimmt ihn dankbar an: lokal und global; ostdeutsch, ohne einen Hehl daraus zu machen. Er strahlt so was aus wie: „Das Heimatgefühl ist okay, es ist nicht unbedingt rechts.“ Clueso verkörpert damit das Positive an der Bodenständigkeit.

Clueso ist kein bunter Hund, nicht exzentrisch. Wie Männer seiner Generation und jenseits – seien es Verwaltungsangestellte, Ärzte oder Radiomoderatoren – trägt er Jeans und Hoodies. Und wenn er „Geil!“ sagt, klingt das wie „Härrlisch!“ bei älteren Männern in karierten Hemden. Alt und Jung, zur gleichen Zeit. Eine Integrationsfigur. Das wird heute geschätzt.

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Wahrscheinlich bin ich Clueso in Erfurt öfter begegnet, ohne ihn bemerkt oder erkannt zu haben – so wie ich ihn sowieso schon tausendmal im Radio gehört haben musste. Das liegt sicher daran, dass er so normal aussieht. Normal und einzigartig.

[1] Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin, 2010.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Barbara Theriault

Barbara Thériault ist Soziologin an der Université de Montréal und assozierter Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt

Barbara Theriault

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