Über allen Wipfeln ist Ruh´

Kein "bewaffneter Konflikt" am Hindukusch Doch der Munitionsbedarf dort stationierter Bundeswehr-Einheiten ist beachtlich

Ebenso wie ihre Verbündeten beachten die Soldaten der Bundeswehr die Regeln des humanitären Völkerrechts bei militärischen Operationen in allen bewaffneten Konflikten, gleichgültig welcher Art", gebietet unzweideutig die Ziffer 211 der Zentralen Dienstvorschrift 15/2, die "Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten" überschrieben ist. Dass die mit den deutschen Streitkräften in der NATO verbündeten US-Truppen sich nicht an völkerrechtliche Regularien halten, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit erfährt indes der Umstand, dass auch die Bundeswehr essenzielle Bestimmungen der Genfer Abkommen inklusive der Zusatzprotokolle missachtet, indem sie in Afghanistan Sanitätssoldaten völkerrechtswidrig als Kombattanten einsetzt - etwa als MG-Schützen bei der Bewachung dortiger Feldlager (s. Freitag 46/05).

Im Bundesverteidigungsministerium, aber auch im Auswärtigen Amt wird dies freilich bestritten. Gemeinschaftlich vertreten deren Hausjuristen die These, in Afghanistan läge gar "kein bewaffneter Konflikt" vor. Daher operiere die Bundeswehr bei ihrem ISAF-Einsatz* quasi wie im tiefsten Frieden, es spräche insofern nichts dagegen, dass Sanitätssoldaten - ganz wie zuhause in einer deutschen Kaserne - zum Wachdienst eingeteilt würden.

Gewiss handelt es sich bei dem Wort "Frieden" um einen äußerst dehnbaren Begriff. Mit Sicherheit nicht mehr anwenden lässt er sich, wenn bewaffnete Überfälle, Raketen- und Granatenbeschuss, Anschläge mit Minen und Sprengfallen, Selbstmordattentate mit Verwundeten und Toten an der Tagesordnung sind - und in einem Land flächendeckend Unsicherheit und Gewalt vorherrschen. In Afghanistan ist dies der Fall, wie täglich sowohl den Medien als auch einschlägigen Lageberichten zu entnehmen ist. Auch General Wolfgang Schneiderhahn, der amtierende Generalinspekteur der Bundeswehr, räumt ein, dass die Bundeswehr-Einheiten in Afghanistan "jeden Tag" angegriffen werde. Doch scheint er damit - nach Überzeugung der Juristen seines Ministeriums - einem schweren Irrtum zu unterliegen. Auch nicht so recht ins Bild passt, dass die Bundeswehr ihren in Afghanistan eingesetzten Soldaten den sogenannten "AVZ" - den "Auslandsverwendungszuschlag" - in der höchsten Stufe bezahlt, der nur gewährt wird, wenn "kriegsähnliche Umstände" herrschen.

Und noch ein Indiz gibt Anlass, am reklamierten "inneren Frieden" Afghanistans zu zweifeln: der Verbrauch an Munition durch das dort stationierte Bundeswehrkontingent. Dazu stellte jüngst der Bundestagsabgeordnete Paul Schäfer (Linke), Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestages, der Regierung mehrere Fragen, die postwendend von Friedbert Pflüger (CDU), frischgebackener Staatssekretär im Verteidigungsministerium, beantwortet wurden. Seinen Angaben zufolge wurde für das deutsche ISAF-Korps die beeindruckende Menge von nahezu vier Millionen Stück Munition diverser Sorten in das Einsatzgebiet am Hindukusch geliefert, wie obige Tabelle mit einer Auswahl verwendeter Munition illustriert.

Es erstaunt neben der schieren Quantität die Art der Munition, und es befremdet der Zeitraum, auf den sich die Aufstellung bezieht - sie reicht lediglich vom 22. April 2002 bis zum 18. November 2005. Aufklärung erbeten hatte der Abgeordnete Schäfer aber für die Periode ab 1. Dezember 2001, wofür laut Staatssekretär Pflüger keine Angaben verfügbar seien. Äußerst bemerkenswert, wird doch normalerweise bei der Bundeswehr über jede einzelne Patrone von der Anlieferung bis zum Verschuss akribisch Buch geführt. Dass man für eine Zeitspanne von nahezu fünf Monaten nicht in der Lage sein soll, detailliert nachzuweisen, wie viel Munition nach Afghanistan geliefert wurde, ist schlicht unglaubwürdig.

Es verwundert darüber hinaus, dass zwei der vorgelegten Fragen, die sich auf Art und Stückzahl der in Afghanistan tatsächlich verbrauchten Munition bezogen, überhaupt nicht beantwortet wurden. Diesbezüglich verstieg sich Pflüger zu der Behauptung, "eine zentralisierte Erfassung aller Munitionsverbräuche getrennt nach Munitionsarten ist nicht vorgesehen." Wie soll es der Truppe unter diesen Umständen möglich sein, Nachschub an Munition anzufordern, wenn sie angeblich gar nicht weiß, wie viel von welcher Sorte ersetzt worden ist.

Der Verdacht liegt nahe, dass der wahre Sachverhalt verschleiert wird, um die absurde These von der Nichtexistenz eines bewaffneten Konfliktes in Afghanistan nicht revidieren zu müssen. Im Übrigen wäre die Logistikorganisation der Bundeswehr jederzeit in der Lage, entsprechende Informationen zu liefern. Wann also werden Bundesregierung und Bundeswehrführung endlich darauf verzichten, die Öffentlichkeit mit Halbwahrheiten abzuspeisen, und die völkerrechtwidrige Praxis beenden, Sanitätssoldaten in Afghanistan wie Kombattanten einzusetzen?

(*) Seit Ende 2001 auf Beschluss des UN-Sicherheitsrates eingesetzte International Security Assistance Force (ISAF)


MunitionssorteAnzahlVerwendung für

Patrone 5,56 mm x 451.810.470Gewehr G 36

Patrone 7,62 mm x 51954.320Maschinengewehr

Patrone 9 mm x 19705.000Pistole P 8 und Maschinenpistole

Patrone 20 mm x 13954.800Maschinenkanone 20 mm

Spreng- und Zündmittel33.811Kampfmittelbeseitigung

Handgranaten6.854

Panzerfaust 3406Munition mit Abschussgerät

Lenkflugkörper361Panzerabwehr (MILAN)

Nichtletale Wirkmittel270Reizstoffe, Granatpistole


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