Auf und davon und zurück

Weißrussland Jeden Morgen machen sich tschetschenische Flüchtlinge von Brest aus auf den Weg nach Polen und sind mittags wieder da
Ausgabe 18/2019

Wenn es in Brest zu dämmern beginnt und sich der Himmel pink verfärbt, kann man beobachten, wie Dutzende senfgelbe Taxen zum Zentralbahnhof schwirren wie Motten zum Licht. Aus den Autos steigen Kinder, Frauen, Männer mit bunten Rucksäcken, Sporttaschen, klappernden Ziehköfferchen – fast alle kommen sie aus Tschetschenien, alle haben sie an diesem Morgen ein Ziel: den Zug um 6.22 Uhr, der sie hinüberträgt über den Fluss Bug und die weißrussisch-polnische Grenze. Zehn Kilometer sind es bis nach Terespol, bis in die Europäische Union. Dort wollen sie einen Asylantrag stellen und Tschetschenien endgültig den Rücken kehren.

Nacheinander schieben sich die Familien durch die hohen hölzernen Schwingtüren der Bahnhofshalle. Wie Spieler vor einem Pferderennen drängen sich die Erwachsenen um die gläsernen Kartenhäuschen, aus denen heraus müde junge Frauen in olivfarbener Uniform Bahntickets verkaufen, als wären es Wettcoupons. Umgerechnet vier Euro kostet die Hinfahrt, vier Euro das Retourbillett, das man als Tschetschene dazukaufen muss. Etwa eins zu 80 würden die Chancen stehen, in Polen einen Asylantrag stellen zu dürfen, meint Fatima*, 40 Jahre alt, marineblaues Kopftuch, schwarz gerahmte Brille, ein ernster Blick, in dem sich die Sorge um ihre fünf Kinder spiegelt. Neun Jahre alt ist Kerim, ihr Ältester, die Jüngste, Maria, wurde gerade drei.

Es bleiben 90 Tage Zeit

Während sich die Erwachsenen drängen, kauern die Kinder zwischen kunstvoll geschnitzten Wartebänken und hohen Säulen aus Marmor. Kerim jagt Soldaten über den Bildschirm des Smartphones seiner Mutter, die zwei jüngeren Mädchen schlafen, Leyla bröselt eine Käsestulle auf ihr T-Shirt, auf dem in weißen Lettern „#Anyways“ geschrieben steht. Abdullah, der Sechsjährige, steht neben Fatima am Schalter und fragt: „Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?“

Es ist der zwölfte Morgen, den sie so verbringen, der zwölfte Morgen, an dem Abdullah fragt, der zwölfte Morgen, an dem die Frau im gläsernen Schalter unfreundlich ist: „Einmal sechs Personen, macht 48 Euro, Wagen 3, los, los, beeilen Sie sich, der Zug fährt gleich ab!“ Das sei so üblich, sagt Fatima. „Alle Tschetschenen bekommen Wagen 3.“ „Refugee Transport“ nennen sie den in Brest. Schon am Schalter werden die Flüchtlinge von anderen Reisenden getrennt – die mit dunkler Hautfarbe von denen mit weißer. Die ohne Visa von denen mit. So können die polnischen Grenzschützer später leichter entscheiden, wen sie ins Land lassen und wen nicht. Bis zum Mittag werden die allermeisten Familien wieder in Brest sein. Vielleicht fehlt eine – die der Gewinner, der Auserwählten, die in Polen einen Asylantrag stellen dürfen. Weil das nur wenigen vergönnt ist, weiß in Westeuropa kaum jemand von der tschetschenischen Flüchtlingstragödie, die sich seit fast vier Jahren auf der Türschwelle zur EU abspielt. Etwa 50 geflüchtete Familien harren derzeit in Brest aus, schätzt der weißrussische Menschenrechtsverband Human Constanta, mehrere hundert seien es im Jahr. Die wenigsten würden es schaffen, auf die andere Seite zu kommen.

90 Tage haben die Tschetschenen Zeit, um Belarus Richtung Westen zu verlassen. So lange dürfen sich Inhaber eines russisches Passes – und Tschetschenen sind russische Staatsbürger – ohne Visum in diesem Land aufhalten, danach werden sie abgeschoben, zurück nach Tschetschenien.

Am Stadtrand von Brest steht ein unscheinbares Haus, kein Rohbau, aber unverputzt. Drinnen riecht es nach Kartoffeln und Zwiebeln, nach Menschenschweiß und einer Toilette, auf deren Boden der Urin steht. Sechs Familien leben hier, 29 Menschen in sieben Zimmern. Da ist Patima (20) aus der Kaukasusprovinz Dagestan, schwanger im fünften Monat. Ihr Ehemann Mikhael (21) hat schon morgens eine Wodkafahne. Und da ist Adlan, der 48 Jahre alt ist, aber wie Ende 60 aussieht und es kaum schafft, sich vom Sofa zum Kettenrauchen auf den grauen Innenhof zu schleppen, über den die Kinder toben. Und da ist Fatima vom Bahnhof, die immer wieder beteuert, sie könne nicht glauben, dass sie dies alles wirklich erlebt, weil man eine Geschichte wie die ihre höchstens erfinden, aber nicht wirklich erleben könne.

2013 sei sie schon einmal in Brest und auf der Flucht nach Deutschland gewesen, erzählt sie. Damals waren ihre beiden jüngsten Kinder noch nicht geboren, sie hatte noch einen Mann und das Glück, zu den Gewinnern, den Auserwählten zu gehören. Sie schaffte es in den Süden Deutschlands und lebte mit ihrer Familie fünf Jahre in einem kleinen badischen Ort gleich hinter der Schweizer Grenze. Die zwei älteren Kinder gingen zur Schule, die jüngeren in den Kindergarten. „Man sagt ja: Nirgends ist es besser als zu Hause. Deutschland aber war besser“, erinnert sich Fatima. Ihr Mann sei damals einfach abgehauen, nach Frankreich, glaubt sie, ohne sich dessen sicher zu sein. Sicher ist nur, dass Fatima allein war in jener Nacht im März 2018, als um zwei Uhr Polizisten in ihrem Wohnzimmer standen. „Die Kinder weinten vor Angst, und ich dachte, es liegt ein Missverständnis vor. Die haben sich in der Adresse geirrt.“ Wochen zuvor hatte ihr die Ausländerbehörde einen Abschiebebescheid zugestellt, den Fatima nicht weiter beachtet hatte – warum auch immer. Noch in der Nacht saß sie mit den Kindern in einem Flugzeug, das Stunden später in Moskau landete.

Was Fatima widerfuhr, ist eine der Fluchtgeschichten, wie sie Tschetschenen in Brest oft mit sich herumtragen. Deren Ausgang ist noch offen, wenn sie die Stadt erreicht haben und darauf hoffen, dass ihnen der Weg nach Westen nicht auf ewig verwehrt bleibt. Wann immer man im Haus am Stadtrand mit Tschetschenen darüber spricht, gilt die Bedingung, dass später weder ihre Namen noch Herkunftsorte erwähnt werden. Die Angst vor den Kadyrowzy, den Sicherheitsleuten des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, ist größer als die vor den sich senkenden Daumen der polnischen Grenzer. „Sie können jetzt sagen, der alte Mann ist paranoid“, sagt der 48-jährige Adlan, der eine Winston pafft, „aber die Kadyrowzy sind überall – auf der Straße, im Supermarkt, am Bahnhof, wenn wir abfahren und wiederkommen. Es ist schon vorgekommen, dass Menschen aus Brest nach Tschetschenien entführt wurden.“ Amnesty International (AI) hat im Vorjahr zwei Fälle dieser Art dokumentiert, darunter das Schicksal von Artur Aydamirov, einem ehemaligen Polizisten, der mit seiner Ehefrau und den drei Kindern nach Brest geflohen war und am 8. Juni 2018 verschwand. Augenzeugen berichteten, sie hätten gesehen, wie ihn vier Männer am Ticketschalter des Brester Bahnhofs abfingen, mit Handschellen fesselten und in einem Van wegfuhren. Seither fehlt von Aydamirov jede Spur.

Ein eingespieltes Ritual

Aleksandra Fertlińska von der AI-Filiale in Polen sagt über diesen Fall: „Aydamirov hat mit seiner Familie neun Mal versucht, nach Polen zu kommen, neun Mal wurde er abgewiesen. Damit haben die polnischen Autoritäten klar gegen das Nichtzurückweisungs-Prinzip verstoßen und Flüchtlinge bewusst in Lebensgefahr gebracht.“ Wie sich das im Einzelnen abspielt, kann Tag für Tag am polnischen Grenzbahnhof Terespol verfolgt werden.

Gegen 7.40 Uhr Ortszeit läuft dort der Zug mit den Flüchtlingen in Waggon Nr. 3 ein, und es gibt ein inzwischen eingespieltes Ritual. Zuerst dürfen die Menschen aus allen anderen Abteilen den Zug verlassen, erst wenn diese Passagiere abgefertigt sind, nach 30 Minuten etwa, öffnen sich die Türen von Wagen 3. Dann drängen sich die Insassen durch einen schlauchartigen Gang vor der Passkontrolle. Einige Flüchtlinge werden von den Grenzschützern nach den Gründen ihrer Reise nach Polen befragt, um danach aufgefordert zu werden, sich in der Ankunftshalle niederzulassen und auf den Mittagszug zu warten, der sie zurück nach Weißrussland bringt. Pro Tag wird eine, in seltenen Fällen zwei Familien ausgewählt, denen es gestattet ist, einen Asylantrag zu stellen.

Nur ein einziges Mal

„Das Vorgehen der polnischen Grenzbeamten ist illegal“, meint Viktoria Radchuk. Die 33-jährige Rechtsanwältin hat über ein Jahr lang für die weißrussische NGO Human Constanta in Brest gearbeitet, die Rechtsberatung für Flüchtlinge anbietet. „Es gibt die Genfer Flüchtlingskonvention, die bestimmt, dass eine Person, die gewillt ist, Asyl zu beantragen, nicht einfach abgewiesen werden darf.“ Sie habe regelmäßig versucht, mit Beschwerdeschreiben an die polnischen Behörden den Flüchtlingen zu ihrem Recht zu verhelfen, doch zusehends ohne Erfolg.

Seit Ende 2015 die rechtskonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) die Regierungsgeschäfte in Warschau übernahm, blieb davon auch das Grenzregime nicht unberührt. Aleksandra Chrzanowska – sie arbeitet für die Association for Legal Intervention, das polnische Pendant zu Human Constanta – beschäftigt sich seit 2015 mit dem Verhalten der polnischen Autoritäten in Terespol. „Seit dem Sommer 2016 sind unsere Interventionen absolut wirkungslos. Zu jener Zeit war die PiS-Regierung vollends etabliert. Im Wahlkampf hatten ihre Politiker gegen Flüchtlinge gehetzt – nun mussten sie zeigen, dass keine mehr ins Land kamen.“ Prompt erklärte im August 2016 der neue Innenminister Mariusz Błaszczak in einem Interview, es gebe in Tschetschenien keinen Krieg mehr, daher sei der Weg über Weißrussland nach Polen lediglich eine neue Migrationsroute für Muslime nach Westeuropa. „Solange ich Innenminister bin und in Polen die Justiz zu ihrem Recht kommt, werden wir das Land keiner terroristischen Bedrohung aussetzen.“

Analog dazu rechtfertigte sich die Kommandantur des Grenzschutzes in Terespol: „Bei der Kontrolle sind Ausländer verpflichtet, den Zweck der Einreise anzugeben. Wenn aus diesen Informationen ersichtlich wird, dass jemand internationalen Schutz sucht, darf Polen betreten und Asyl beantragt werden. Wenn die Erklärung des Ausländers jedoch zeigt: Das Ziel der Einreise ist der Wunsch, in westeuropäische Länder zu reisen, und dafür wirtschaftliche Gründe maßgebend sind, wird die Einreise verweigert.“ Tschetschenen in Brest berichten denn auch davon, dass polnische Grenzpolizisten sie befragt hätten, ob es Verwandte in Europa gebe und ob man irgendwann einmal in der EU arbeiten wolle.

Für die Menschenrechtsverbände in Polen und Weißrussland ist es derzeit unmöglich, wirkungsvoll einzugreifen. Nicht einmal Anwälte dürfen bei den Kontrollen an der Grenze dabei sein – aus „Datenschutzgründen“, wie der Grenzschutz mitteilt. So steht Aussage gegen Aussage – die Flüchtlinge sagen, dass ihre Bitte um internationalen Schutz ignoriert werde, während die Grenzpolizisten behaupten, es gebe diese Bitten gar nicht.

Inzwischen musste Fatima A. zurück nach Tschetschenien, die 90-Tage-Frist für Belarus war abgelaufen. Sie verstecke sich in der Wohnung von Verwandten, die Kinder gingen nicht zur Schule, das sei zu riskant, teilt sie über einen Messenger-Dienst mit. Sie habe erfahren, dass es Schlepper gebe, die jemanden für 4.000 Euro von Weißrussland nach Deutschland brächten. Doch 24.000 Euro für die ganze Familie könne sie nicht aufbringen. Deshalb werde sie bald zum dritten Mal mit ihren fünf Kindern nach Brest reisen, wieder und wieder in den Zug nach Terespol steigen und hoffen, dass die Grenzpolizisten ihr einmal richtig zuhören. Nur ein einziges Mal.

Info

* Namen der Tschetschenen geändert

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Geschrieben von

Bartholomäus von Laffert | bartholomäus von laffert

https://www.torial.com/en/bartholomaeus.von-laffert

bartholomäus von laffert

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