„Ein Verteilungskampf muss verhindert werden“

Interview Die Zuwanderung darf nicht für Lohndumping missbraucht werden, sagt der Gewerkschafter Dierk Hirschel
Ausgabe 06/2016
In vielen Branchen fehlen Fachkräfte: eine Chance für die vielen Neuankömmlinge
In vielen Branchen fehlen Fachkräfte: eine Chance für die vielen Neuankömmlinge

Foto: Joerg Koch/Getty Images

der Freitag: Herr Hirschel, vergangenes Jahr kamen über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Auch wenn nicht alle eine Arbeitserlaubnis bekommen werden, ist doch jeder, der eine kriegt, ein potenzieller Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt. Müssen deutsche Arbeitnehmer da Angst haben?

Dierk Hirschel: Nein, der deutsche Arbeitsmarkt ist im Moment in einer guten Verfassung. Wir haben einen Zuwachs offener Stellen, die Erwerbstätigkeit steigt, die Arbeitslosigkeit sinkt. In vielen Branchen fehlen Fachkräfte. Die Flüchtlinge, die jetzt kommen, sind zwar beruflich geringer qualifiziert, sie sind aber jung und verfügen über eine teils gute Schulausbildung.

Was muss da jetzt getan werden?

Wir müssen viel Geld in die Hand nehmen, um zu investieren. Jeder Euro, der jetzt in Flüchtlinge investiert wird, wird sich künftig mehrfach auszahlen. Die Bundesregierung ist da viel zu zaghaft. Ich erinnere daran, dass in der Finanzmarktkrise Geld plötzlich keine Rolle mehr gespielt hat. Damals floss ein dreistelliger Milliardenbetrag. Jetzt haben wir eine weltweite Flüchtlingskrise, und da darf Geld genauso wenig eine Rolle spielen. Wir brauchen zweistellige Milliardeninvestitionen in den sozialen Wohnungsbau, die Arbeitsmarktpolitik und die Bildung. Zudem braucht die öffentliche Verwaltung mehr Personal. Von diesen Investitionen profitieren nicht nur die Zuwanderer, sondern alle.

Gerade die öffentliche Verwaltung wurde in den vergangenen Jahren immer weiter abgebaut. Wieso soll sich das nun ändern?

Es ist ein großes Problem, dass die Kommunen seit 15 Jahren auf Verschleiß fahren. Es gab einen enormen Personalabbau und Investitionsstau. Jetzt kommen viele Menschen zusätzlich, die die Leistungen der Verwaltung in Anspruch nehmen werden. Das führt dazu, dass viele Städte und Gemeinden überfordert sind. Es gibt da nur einen Ausweg: Geld in die Hand nehmen, Zurückhaltung ist hier nicht angebracht.

Wo soll das Geld herkommen? Viele Steuerzahler haben Angst, die Flüchtlinge würden ihnen etwas wegnehmen ...

Entscheidend ist doch: Geld ist genug da. Ein gigantischer privater Reichtum steht öffentlicher Armut gegenüber. Deswegen sollten hohe Einkommen und Vermögen höher besteuert werden. Die Kommunen sind unterfinanziert. Wenn wir das ändern wollen, können wir natürlich kurzfristig höhere Schulden machen, wie das in der Finanzmarktkrise getan wurde, um Banken zu retten. Mittelfristig sind aber höhere Reichensteuern der bessere Weg.

Zur Person

Dierk Hirschel, Jahrgang 1970, ist seit 2010 Bereichsleiter Wirtschaftspolitik, Europa und Internationales der Gewerkschaft Verdi. Von 2003 bis 2010 war er Chefökonom des DGB

Für welche Branchen ist denn der Großteil der Flüchtlinge qualifiziert?

Zunächst werden viele Flüchtlinge in Branchen arbeiten, die Jobs für gering Qualifizierte anbieten: Wir reden über Gastronomie, Gebäudereinigung, Altenpflege, Einzelhandel. Also meist Bereiche, die auch geringer entlohnt werden.

In Ihrer Broschüre zum Thema finden sich Daten, wonach nach fünf Jahren 50 Prozent der Migranten Jobs haben, nach 15 Jahren 70 Prozent. Bleiben 30 für die Sozialkasse?

Diese Zahlen müssen wir relativieren. Die Altersstruktur hat sich geändert. Die Menschen, die jetzt zu uns kommen, sind deutlich jünger als die bereits bei uns lebenden Zuwanderer. Heute sind 80 Prozent der Zuwanderer unter 35 Jahre alt und 55 Prozent jünger als 25. Die Voraussetzungen sind heute besser. Die alten Integrationsergebnisse für den Arbeitsmarkt können wir also nicht so einfach fortschreiben.

Von Arbeitgeberseite wird der Ruf lauter, den Mindestlohn wieder aufzuheben, um Flüchtlingen den Einstieg zu ermöglichen.

Für uns als Gewerkschaft gilt es zu verhindern, dass Ausnahmen beim Mindestlohn gemacht werden. Ausnahmen sind ökonomisch unsinnig und politisch brandgefährlich. Eine neue Welle des Lohndumpings würde den Rechtsextremen in die Hände spielen, die das Sozialneid-Argument stark machen. Wir würden mit einer solchen Entscheidung dafür sorgen, dass das Klima in Deutschland weiter vergiftet wird. Es gibt aber keine gesellschaftliche Mehrheit dafür. Viele Unternehmer und Arbeitgeberverbände teilen die Auffassung der Gewerkschaften, dass es keine Ausnahmen für Flüchtlinge geben darf.

Ihre Gewerkschaft lebt von den Beiträgen Ihrer Mitglieder. Deshalb sind Ihnen deren Interessen doch näher als die anderer Arbeitnehmer. Und für Flüchtlinge sind Sie ja eigentlich nicht zuständig.

Wir kümmern uns um alle abhängig Beschäftigten. Für uns ist nicht entscheidend, woher jemand kommt, sondern dass er seine Arbeitskraft verkaufen muss. Wir versuchen deshalb zu verhindern, dass Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden. Bei entfesselter Lohnkonkurrenz verlieren am Ende alle. Das zu verhindern, kann aber nur gelingen, indem wir Flüchtlingen die gleichen Arbeitsrechte zugestehen wie den heimischen Arbeitnehmern. Was wir verhindern müssen, ist ein Verteilungskampf zwischen Geringverdienern, Hartz-IV-Empfängern und Langzeitarbeitslosen auf der einen Seite sowie Flüchtlingen auf der anderen.

Wie ist die Stimmung in der Gewerkschaft?

Wir sind optimistisch im Herzen und pessimistisch im Verstand. In einer Einheitsgewerkschaft spiegelt sich immer die ganze Gesellschaft wider. Die Stimmung variiert, je nach persönlicher Betroffenheit und politischer Haltung. Viele Gewerkschaftler engagieren sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Sie haben nicht vergessen, dass Gewerkschaftler hier auch einmal politisch verfolgt waren. Gleichzeitig haben viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes die Grenzen der Belastbarkeit erreicht. Da muss politisch gehandelt werden. Was uns eint, sind aber unser humanitäres Grundverständnis und unsere klare Kante gegen Rechtspopulisten und Neonazis.

Sie betonen den ökonomischen Nutzen. Wenn Flüchtlinge sich für eine Volkswirtschaft nicht lohnen würden, wäre das für Sie ein Argument für geschlossene Grenzen?

Nein, die Flüchtlingsfrage ist vor allem eine humanitäre Frage. Dennoch wird Deutschland von der Zuwanderung wirtschaftlich profitieren, wenn die Politik jetzt die richtigen Entscheidungen trifft.

Und wo ist da Schluss? Hat der deutsche Arbeitsmarkt eine Obergrenze?

Natürlich wäre es sinnvoll, eine europaweite, solidarische Lösung zu finden. Auf diese Weise auch die Belastung auf die Mitgliedsländer der Europäischen Union gerecht zu verteilen, wäre wünschenswert …

... aber entspricht nicht der Realität.

Stimmt, aber das Problem bei der nationalen Be-wältigung sind nicht die Flüchtlinge, sondern die finanziell ausgehungerten Kommunen. Klar gibt es faktische Grenzen für Integration. Aber es ist auch klar, dass, wenn Investitionen jetzt nicht getätigt werden, diese Grenze viel schneller erreicht wird.

Und die Grenze ist noch nicht erreicht?

Nein.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden