Fluppenwanderung

Zigarettenschmuggel Das ukrainische Transkarpatien ist bitterarm. Wer Geld verdienen will, geht nachts über die Grenze – hinein in die EU
Ausgabe 10/2019

Es ist Viertel nach eins und stockdunkel in den Karpaten im Südwesten der Ukraine, gleich hinter der rumänischen Grenze. Nur der Mond und die Scheinwerfer des alten Volkswagens spiegeln sich an der Oberfläche der Theiß, die unterhalb der Landstraße fließt. Drinnen sitzt Wladoslaw K., den Oberkörper nach vorn gebeugt, sodass sein Kinn fast auf dem Lenkrad liegt. Aus den scheppernden Lautsprechern dröhnt ukrainische Popmusik. Unterhalb einer kleinen Anhöhe kommt der Wagen zum Halten, oben steht eine Scheune aus ächzendem Holz, darin zwei Boxen, die Wladoslaw mit einem alten T-Shirt verknotet und sich über die Schulter wirft. Vor einer kleinen Kapelle bleibt er stehen, schlägt drei Kreuze, murmelt ein Gebet und ein Amen, dann lässt er sich fast lautlos den Hang hinuntergleiten zum Fluss, watet durchs Wasser und verschwindet mit den Boxen zwischen den Bäumen, die schon nicht mehr zur Ukraine gehören, sondern zu Rumänien und damit zur EU.

Etwa 75 Minuten wird es dauern, bis Wladoslaw zurückkehrt, ohne Gepäck, dafür um 200 Euro reicher, 100 pro Box. So viel zahlen ihm die Abnehmer auf der anderen Seite für die Schmuggelware: stangenweise Zigaretten der in der EU verbotenen Marken Marble und Regina, ein Bruchteil der 65 Milliarden Zigaretten, die nach Schätzungen der Europäischen Kommission jedes Jahr illegal in die EU gelangen. Laut der Polizeibehörde Europol wurden zuletzt aus keinem Land mehr Zigaretten in die Europäische Union geschmuggelt als aus der Ukraine. Mehr als zehn Milliarden Euro an Steuereinnahmen gehen dadurch pro Jahr verloren.

Robin-Hood-Allüren

Für viele in Transkarpatien hingegen ist „Kontrabanda“, wie sie den Schmuggel hier nennen, eine Frage des Überlebens. Die Grenze zu überwinden, das ist ihr Beruf. Schmuggler gelten nicht als Verbrecher, sondern als Helden. Warum ist das so? Für die Transkarpatier gebe es zwei Optionen, erklärt Wladoslaw. „Entweder wir verlassen das Land und gehen zum Arbeiten in die EU. Oder wir fangen an mit Kontrabanda und verdienen etwas.“ Fast vier Millionen Ukrainer oder 16 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter verdienen ihr Geld als Arbeitsmigranten im Ausland. Wladoslaw war noch ein Teenager, als ihn die Mutter als das älteste von sieben Kindern nach Tschechien schickte, damit er dort auf dem Bau arbeitete. Er erzählt: „Ich wollte zurück, weil ich mein Land liebe und meine Familie – also habe ich mich für Kontrabanda entschieden.“ Um ihn zu verstehen, müsse man sich nur einmal die Zahlen ansehen, sagt er. Dann merke man schnell, dass die Grenze nicht bloß eine geografische sei.

Im Süden Rumäniens, einer der ärmsten Regionen in der EU, verdienen die Menschen im Schnitt 950 Euro im Monat, während eine Schachtel Zigaretten gut drei Euro kostet. Im Norden, in Transkarpatien, liegt das Einkommen bei durchschnittlich 280 Euro, aber die Zigaretten sind billig – umgerechnet 52 Cent für eine Schachtel.

Inmitten eines Postkartenidylls liegt das ukrainische Dilowe, gleich hinter der Grenze. Die Armut sieht man der kleinen Ortschaft kaum an. Sie versteckt sich hinter Blumenkästen vor Fenstern, hinter denen oft schon morgens getrunken wird, sie hat etwas mit Grundschullehrern zu tun, die nachts Zigaretten schultern, um etwas mehr zu verdienen. Andrej Panasjuk, der Bürgermeister von Dilowe, sagt: „Meiner Meinung nach müssten die Kontrabandisten mit Verdienstorden ausgezeichnet werden.“ Sie täten mehr für die Gemeinschaft als alle Parlamentarier in Kiew zusammen. Bevor er sein Amt übernahm, habe er selbst Zigaretten geschmuggelt. „Wir helfen der Wirtschaft unseres Landes“, findet Wladoslaw. „Wir bekommen Geld aus der EU und geben es in der Ukraine aus.“

Zwei Kilometer außerhalb der Ortschaft patrouilliert eine Frau in Flecktarn, die nicht viel übrighat für Männer mit Robin-Hood-Allüren, die versuchen, den Schmuggel zu rechtfertigen. Lesya Fedorowa, eine Frau im Offiziersrang, war noch ein Kind, als in ihr der Entschluss reifte, die Grenzen ihres Landes beschützen zu wollen. „Nur hinter gesicherten Grenzen kann sich die Ukraine entwickeln. Es geht den Schmugglern allein um persönliche Bereicherung, sie denken nur an sich. Sie sehen sich nicht als Bürger dieses Staates. Es ist so, als würden sie in dem Haus, in dem sie leben, die Fenster einwerfen.“

Mein Freund, der Polizist

Wahrscheinlich ist kaum ein Abschnitt der EU-Außengrenze schlechter geschützt als der zwischen Nordrumänien und Transkarpatien. Ohnehin ist manch ukrainischer Grenzschützer selbst in den illegalen Transit verstrickt oder lässt sich fürs Wegschauen von den Schmugglern bezahlen, um sein Gehalt aufzubessern. Wer das tut, muss nicht damit rechnen, hart bestraft zu werden, denn in der Ukraine wird Schmuggel als Verwaltungsdelikt geahndet, nicht als Straftat. Wer erwischt wird, zahlt – und ist oft schon am Tag darauf wieder zurück im Geschäft.

Fedorowa steht jetzt am Hang oberhalb des Flusses und damit ungefähr an der Stelle, die Wladoslaw vor gut 40 Stunden mit 26 Kilo Gepäck im Wert von 200 Euro überquert hat. Für Fedorowa ist das Räuber-und-Gendarm-Spielen nicht nur längst Routine, sondern auch frustrierend, da ihr meist nur kleine Fische ins Netz gehen, selten die großen. „Die Hintermänner selbst machen keine Kurierdienste, dafür greifen sie auf junge, sportliche Männer aus der Bevölkerung zurück.“

Welches Organisationsprinzip dem Schmuggel zugrunde liegt, dazu gibt es Versionen, die sich stark voneinander unterscheiden, je nachdem, mit wem man spricht: Wladoslaw sagt, er kaufe die schwarzen Boxen von einem Bekannten, bringe sie hinüber nach Rumänien und verkaufe sie dort weiter an einen anderen Bekannten. Ein Ablauf, den man als „Businessmodell der Subunternehmer“ bezeichnen könne, so Dmytro Tuschansky, der als Journalist in der transkarpatischen Hauptstadt Uschgorod arbeitet und sich seit Jahren mit lokalen Kontrabanda-Netzwerken beschäftigt: „Die einen stellen die Zigaretten zur Verfügung, der Nächste bringt sie an die Grenze, der Dritte schmuggelt sie hinüber, jeder schlägt ein paar Euro drauf, alle profitieren.“ Wladoslaw kommentiert: „Das ist ein Geschäft unter einfachen Leuten in Rumänien und in der Ukraine, von einem System weiß ich nichts.“

„Ameisen-Schmuggel“ nennen Europol-Beamte diese Art von Warenverkehr, bei der viele kleine anstatt weniger großer Ladungen über die Grenze gehen, um das Risiko zu minimieren. Es würden dazu auch Autos, Drohnen, Flöße und Pferde genutzt. Laut „Progress Report“ der EU-Kommission kommen auf diese Weise immer mehr illegale Zigaretten in die EU. Für kriminelle Netzwerke sei Zigarettenschmuggel ein Low-risk-high-profit-Business, bei dem sich ohne große Gefahr schnell viel Geld verdienen lasse. Dies wiederum werde genutzt, um „ernsthafte Kriminalität und Terrorismus“ zu finanzieren, meint ein Sprecher von Europol. Eine im Juni 2018 veröffentlichte Studie der Tobacco Control Research Group der Bath-Universität in Großbritannien legt nahe, dass auch Tabakfirmen in den illegalen Handel mit eigenen Produkten involviert sind.

Wann genau in ihrer Gegend der Schmuggel begann, daran mag sich in Dilowe, gleich hinter der rumänischen Grenze, niemand mehr erinnern. Am späten Nachmittag sitzen die Männer des Dorfes auf der Terrasse vor einer Kneipe. Die Jungen sagen, Schmuggel war eigentlich immer schon da – die Älteren glauben das auch, nur sei es schlimmer geworden mit der Unabhängigkeit nach dem Ende der Sowjetunion 1991. Nacheinander hätten das Stahl- und das Chemiewerk wie die Textilfabrik geschlossen. Als sich die Brot- und Streichholzpreise vervielfachten, sei ihnen ihre Armut auf einen Schlag bewusst geworden. Der Exodus aus der Region begann, gleichzeitig erlebte der Zigarettenschmuggel seine Blütezeit, erinnern sich die Alten.

Zwischen drei und vier Milliarden Zigaretten pro Jahr haben europäische Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren beschlagnahmt. Nicht viel, bedenkt man, dass etwa 65 Milliarden pro Jahr illegal in die EU gelangen. 2014 hat die Brüsseler Kommission deshalb ein multilaterales Anti-Schmuggel-Abkommen beschlossen, um illegale Zigaretten aus der EU zu verbannen. Ein System der Rückverfolgbarkeit lässt ermitteln, wann illegale Zigaretten auf den Markt gelangen. Spätestens im Mai 2019 sollen alle Packungen mit entsprechenden Codes versehen sein. Auch anderweitige Vorkehrungen gibt es: Einige hundert Meter vor dem Ortseingang von Dilowe laden Männer in Militäruniformen Zaunrollen von einem Pick-up und rammen Holzpflöcke in den Boden, um die Festung Europa besser abzuschotten.

Der Journalist Dmytro Tuschansky glaubt nicht, dass die EU den Schmuggel damit unterbindet. „Wir brauchen nicht mehr Grenzen, sondern weniger. Über offene Grenzen kann man nicht schmuggeln. Außerdem brauchen wir eine Perspektive für die Menschen.“ Kontrabanda helfe, in den Grenzdörfern soziale Probleme zu entschärfen, wozu die Politik nicht fähig sei. Und der Schmuggler Wladoslaw K. ergänzt: „Gebt mir einen anständig bezahlten Job, und morgen schon höre ich auf mit meinen Grenzgängen. Hätten wir ein Einkommen, das für ein Minimum an Lebensstandard reicht, wäre alles gut.“

Bis es so weit ist, treffen sich die Männer in Dilowe weiterhin Abend für Abend in der Dorfkneipe an der Theiß. Am anderen Ufer beginnt Rumänien. Sie trinken Bier, rauchen, lachen. „Wenn ich Geld brauche, dann mache ich einen Job“, sagt einer, der normalerweise als Lehrer an der Mittelschule etwas mehr als umgerechnet 300 Euro im Monat verdient. „Mein Freund hier ist Grenzpolizist“, er klopft auf die Schulter seines Nachbarn, der schweigend und rauchend in einem Plastikstuhl sitzt. „Und der passt auf mich auf.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden