Gekommen, um zu bleiben

Geflüchtete Wie Migranten das Land in den letzten Jahren gewandelt haben. Zum Besseren
Ausgabe 11/2016

Silvesternacht in Köln, Clausnitz, Schließung der Balkanroute, Familiennachzug gestoppt, noch mehr sichere Herkunftsländer, noch mehr Asylverschärfung: Die Ereignisse überschlagen sich wöchentlich, täglich, stündlich. Jeder Versuch eines Chronisten, die Flüchtlingspolitik und -bewegungen der letzten Monate und Jahre nachzuzeichnen, muss zum Scheitern verdammt sein. Christian Jakob versucht es trotzdem. Und er macht das in seinem Buch Die Bleibenden richtig gut. Muss er ja, denn kaum einer hat die Entwicklung länger begleitet als Jakob, der schon 1999 in antirassistischen Gruppen der Unterstützerszene aktiv war. Kaum ein Reporter hat sich in der vergangenen Jahren intensiver mit den Problemen der Flüchtlinge in Deutschland beschäftigt als der taz-Journalist. Ja, richtig gehört: mit den Problemen der Flüchtlinge. Nicht mit Flüchtlingen als Problem, das es nach Möglichkeit zu bekämpfen gilt.

Jakobs Erzählung beginnt 1994. Irgendwann muss man einen Startpunkt setzen, um das Tohuwabohu von heute zu verstehen. 1994, zwei Jahre nach den Randalen von Rostock-Lichtenhagen, mit der Gründung des „The Voice of Africa“-Forums in Thüringen, Deutschlands erster selbst organisierter Flüchtlingsorganisation. Das erste Mal, dass die Flüchtlinge selbst als aktive Subjekte die politische Bühne betreten. Christian Jakob erzählt diese Geschichte der Emanzipation der Flüchtlinge zunächst in zwölf persönlichen Porträts von Menschen, die er selbst kennt aus seiner Zeit in der Unterstützerszene. Zwölf Geschichten, die verschiedene Herausforderungen beschreiben, mit denen Flüchtlinge in Deutschland zu kämpfen haben – größtenteils bis heute: Nachfluchtgründe, Duldung, Arbeitsverbot, Lagerleben, Polizeigewalt. Es sind wieder und wieder dieselben Probleme und ähnliche Geschichten, die Jakobs Protagonisten erleben. Für den Leser mag dieses Sich-im-Kreis-Drehen, die Stagnation dröge und zermürbend wirken. Aber nichts anderes sind die Probleme der Geflüchteten. Beim Ankommen in Deutschland ist Stagnation die Action, Stillstand die Realität und Progress die Ausnahme.

In den weiteren Teilen des Buches bringt Jakob mit klarer Haltung und nüchternem Blick Übersicht und Relation in die Thematik, die für viele Deutsche als teilnehmende Beobachter einer hitzigen Debatte längst verloren gegangen ist. Ja, es gab eine Zeit, in der niemand den Flüchtlingen half, die Zeit vor dem „Syrien-Effekt“, den Jakob beschreibt. In der sich die Politik einzig darum sorgte, Asylsuchende schnellstmöglich wieder loszuwerden, anstatt sich um Integration zu bemühen: „Bemerkenswert ist, dass das Bundesinnenministerium im Monatsrhythmus Alarm schlägt und ständig neue Gesetzesverschärfungen verlangt, als die Asylzahlen mit 77.000 (2012) und 127. 000 (2013) vergleichsweise niedrig liegen. (…) Heute hält die CSU 200.000 Flüchtlinge im Jahr für verkraftbar, und da funktioniert auch die Integration“, schreibt Jakob.

Dass sich das geändert hat, ist vor allem das Verdienst der Flüchtlinge selbst. Der beharrliche Protest, die Opferbereitschaft bis hin zu Hungerstreiks, ohne die die Geflüchteten wahrscheinlich immer noch mit Essensmarken und monatelangen Residenzpflichten drangsaliert würden. Diese Leistung macht Jakob sichtbar und honoriert sie.

Am besten wäre es, dieses Buch würde nicht nur auf Deutsch erscheinen, sondern gleich auch auf Arabisch, Farsi und Wolof. Damit die Geflüchteten nicht nur ihre Pflichten kennenlernen, die ihnen in zahlreichen Integrationskatalogen zuteilwerden, sondern auch ihre Rechte. Denn einen Schluss zieht Jakob aus seiner 180 Seiten langen Analyse: „Die Flüchtlinge und MigrantInnen haben dieses Land verändert, zum Besseren. Und egal, was jetzt geschieht: Dieser Wandel ist irreversibel. Er wird bleiben.“ Hoffentlich auch nach der nächsten Asylverschärfungsrunde.

Info

Die Bleibenden – Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern Christian Jakob Ch. Links Verlag 2016, 180 S., 18,00 €

Über das Überleben: Die BIlder des Spezials

Jedes Jahr im Sommer entstehen an ukrainischen Fernstraßen kleine private Märkte für Gemüse und Obst. Die Händler richten sich in Hütten ein oder leben mit ihren Familien in Wohnwagen und Zelten. Sie kommen auch aus Weißrussland und Moldawien, Georgien oder Armenien – alle wollen Geld verdienen für ein besseres Leben oder einfach dem Hunger entkommen. Die preisgekrönte Serie Bitter Honeydew des Fotografen Kirill Golovchenko dokumentiert den Überlebenskampf der Straßenhändler und das nächtliche Treiben in ihrer Welt. Das Buch zur Fotoserie ist in fünf verschiedenen europäischen Verlagen erschienen, mehr Informationen auf kirill-golovchenko.com.

Bitter Honeydew Kirill Golovchenko Kehrer 2015, 76 S., 38 €

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Geschrieben von

Bartholomäus von Laffert | bartholomäus von laffert

https://www.torial.com/en/bartholomaeus.von-laffert

bartholomäus von laffert

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