Das ist keine typische Position für einen linken Politiker. Es erweckt den Eindruck, als würde ich über die ganze Stadt herrschen.“ Albin Kurti fühlt sich sichtlich unwohl, als ihn die Fotografin für das Porträtfoto platziert. Wir sind im sechsten Stock eines Bürohaues und damit einigermaßen hoch über den Dächern von Priština, Kosovos Hauptstadt. Kurti ist Gründer der größten Oppositionspartei, die sich Vetëvendosje (Selbstbestimmung) nennt. Bloß nicht wirken wie ein Autokrat, davon gibt es hier schon genug.
Unzufrieden sieht Kurti aus, wenn er nach unten schaut – auf die einäugigen Busse, die hinter Mercedes-Limousinen durch die an Schlaglöchern reichen Straßen fahren, auf die tristen Baracken, in denen billiger Kaffee ausgeschenkt wird, auf die Gerippe halbfertiger Hochhäuser und die Jungen, die Männern in Anzügen wahlweise Schuhe polieren oder Zigaretten verkaufen. Kosovo im Frühjahr 2016, in wirtschaftlicher Hinsicht ein Wrack, nach der Unabhängigkeitserklärung von 2008 mit dem Versuch eines Quantensprungs gescheitert. Was die herrschende Elite nicht über Gebühr erschüttert. Deren System greift Kurti an. Dafür ist er bereit, bis ans Limit zu gehen, zur Not darüber hinaus.
Die Tränen des Gegners
Nach Kurtis Auffassung sollte Vetëvendosje keine Parte sein, sondern eine Bewegung, er selbst kein Parteigründer, sondern weiter Studentenführer, der schon vor dem Krieg von 1999 für die Trennung von Serbien gekämpft hat. Kritische Studenten werden in sein Parteibüro gebeten, um über ihre Ideen zu reden. Bei ihnen genießt der Mann, der ein bisschen so aussieht wie das gemeinsame Kind von Mr. Bean und Alexis Tsipras, die Street-Credibility. Und: Kurti lässt Taten folgen, wo andere nach großen Worten aufhören. Es können Eierwürfe oder Tränengas-Patronen im Parlament sein: „Leiser Protest ist nicht friedlich! Nicht in einem Land, das autokratisch geführt wird und sich auf eine internationale Diplomatie stützt, die regiert. Leiser Protest wird zum Karneval, über den sie sich amüsieren.“
Seit Oktober 2015 ist Tränengas fester Bestandteil kosovarischer Oppositionspolitik. Selten vergeht eine Woche, in der im Plenarsaal keine Tränen vergossen werden. Schutzmasken zählen bei Abgeordneten zur Ausstattung. Tränengas als Waffe gegen die Korruption und gegen einen Vertrag, mit dem das Verhältnis zu Serbien normalisiert werden soll. „Tränengas verzieht sich in 30 Minuten, mit den Folgen eines solches Abkommens haben wir noch in 30 Jahre zu kämpfen“, insistiert Kurti.
Konkret geht es darum, dass der Verband serbischer Gemeinden im Kosovo mehr Autonomie erhalten soll, ein eigenes Parlament haben darf, über die Gesundheits-, Bildungs- und Agrarpolitik selbst entscheidet. Serbien hätte zudem das Recht, diese Gemeinden finanziell zu unterstützen. Die internationale Gemeinschaft will durch derartige Konzessionen zu mehr Stabilität in der Region kommen. Kurti und seine Anhänger sehen darin eine Gefahr für die Souveränität des Kosovo, die Serbien nach wie vor nicht anerkennt. Sie fürchten, dass die serbische Minderheit eine Autonomie erlangt, wie das mit der Republika Srpska in Bosnien der Fall ist. Kurti: „Wir wollen keine Segregation und keinen Einfluss Serbiens, sondern eine Integration aller Bevölkerungsgruppen in diese Republik.“ Nationalistisch nennen das Kritiker Kurtis, antikolonialistisch ist es für ihn selbst.
Seit 2008 haben 23 von 28 EU-Staaten Kosovo als Staat anerkannt. Spanien, Zypern, Griechenland, Rumänien und die Slowakei halten Distanz, um dem Separatismus im eigenen Land keine Argumente zu liefern. Noch immer sind die Wunden des Krieges mit Serbien, der zwischen 10.000 und 13.000 Menschen das Leben gekostet hat, nicht verheilt. „Wir haben hier im Kosovo zwei Hauptprobleme“, erklärt Kurti, „die grassierende Arbeitslosigkeit zum einen sowie einen in Albaner und Serben gespaltenen Norden zum anderen. Korruption, Armut und ökonomische Abhängigkeit sind nur die Folgen.“
Das Geld der Diaspora
Beispiel Mitrovica, eine Kleinstadt im Norden. 70.000 Menschen leben hier. Mitten hindurch fließt der Ibar, als hätte jemand eine Kerbe in die Gegend schlagen wollen. An keinem anderen Ort ist die Spannung zwischen den Volksgruppen so spürbar wie hier. Im Süden von Mitrovica dominieren auf wehenden Fahnen schwarze Doppelkopf-Adler auf rotem Grund, es gibt Moscheen, man hört die albanische Sprache. Keine 30 Meter lang ist die Brücke über den Ibar, die von NATO-Soldaten bewacht wird. Keine Mauer, kein Gitter hält Passanten davon ab, diesen Übergang zu passieren. Und doch sind es nur ein paar Touristen, die sich ans andere Ufer verirren – nach Severna Kosovska Mitrovica, dem serbischen Bezirk. Auf einer Anhöhe steht die neue Kathedrale. Gesprochen wird serbisch, die Schrift ist kyrillisch, man zahlt in Dinar – blau-weiß-rote Wimpel hängen an den Straßen. Gerade war der serbische Premier Aleksandar Vučić zu Gast.
„Eine Versöhnung wird es auch in 100 Jahren nicht geben“, ist Ducan überzeugt, während er von seinem Bier nippt. 21 Jahre ist er alt und war schon lange nicht mehr auf der albanischen Seite. „Was soll ich da? Vielleicht werde ich hinübergehen, wenn auch dort blau-weiß-rote Fähnchen wehen. Im Moment ist mir das zu gefährlich.“ Seit dem Juni 2004 hat sich die Lage freilich merklich entspannt. Seinerzeit hatten Kosovo-Albaner in Pogromstimmung versucht, die Brücke zu stürmen, die Serben gen Norden zu vertreiben und orthodoxe Kirchen niederzubrennen. „Die Menschen hier hassen sich, und die Politiker nutzen das aus“, glaubt Ducan.
Tatsächlich dürfte den internationalen Schirmherren des Kosovo, besonders der EU, klar sein, wie fragil die Koexistenz zwischen Serben und Albanern weiterhin ist. Die Regierung in Priština weiß damit zu spielen. Nicht zuletzt Präsident Hashim Thaçi versteht sich darauf. Nach außen signalisiert er, mit Belgrad reden zu wollen, gegenüber der albanischen Bevölkerung pflegt er seinen Ruf als Kommandant der UÇK, der kosovarischen Befreiungsarmee.
Lange wurde nach den Parlamentswahlen im Juni 2014 vergeblich versucht, eine Regierung zu bilden. Niemand aus der Opposition wollte mit Thaçis Demokratischer Partei (PDK) koalieren. Per Verfassungsänderung verhinderte die internationale Gemeinschaft eine sich abzeichnende Koalition unter Beteiligung der Verhandlungsverweigerer von Vetëvendosje und ohne die PDK. Erst auf Drängen von US-Botschafterin Tracey Ann Jacobson fanden schließlich die Erzfeinde Demokratische Liga (LDK) und Thacis PDK zueinander. Die Bevölkerung fühlte sich verraten, weil Jacobson kurz zuvor öffentlich verkündet hatte: LDK-Chef Isa Mustafa drohten wegen etlicher Vergehen, begangen in seiner Zeit als Bürgermeister von Priština, 70 Anklagen.
„Die Rettung in strafrechtliche Immunität plus Premierministerposten – da muss niemand zweimal überlegen“, meint Visar Duriqi. Der junge Journalist, der seit Jahren versucht, Netzwerke der Korruption aufzudecken, rührt seinen Latte macchiato in einem kleinen Café gleich gegenüber dem Verfassungsgericht. „Kosovo ist keine Demokratie. Kosovo ist eine Ambassadokratie. Die internationale Gemeinschaft entscheidet, wer regiert – nicht das Volk.“ Dass dabei ein mehr als fragwürdiger Partner wie der Präsident und Ex-Premier Hashim Thaçi, der sich in seiner Zeit bei der UÇK-Guerilla nicht zufällig den Beinamen „die Schlange“ erworben hat, vorteilhafter erscheint als Vetëvendosje mit einer dezidiert antiserbischen Haltung, ist kein Geheimnis. Und dass Thaçi 2011 von einer Untersuchungskommission um den Schweizer Europaratsabgeordneten Dick Marty Verbrechen wie Organhandel und Verwicklung in Auftragsmorde zur Last gelegt wurden – egal.
„Wenn es um den Kosovo geht, hat die Staatengemeinschaft folgende Ziele – Stabilisierung, Frieden, Sicherheit“, sagt Albin Kurti. Er teilt das vor ihm liegende Papier mit einer dünnen schwarzen Linie in zwei Spalten auf. „Hier stehen die Krisenstaaten, und hier die Prinzipien der normalen Staaten: Gerechtigkeit, Demokratie, Entwicklung. Dafür tut die internationale Gemeinschaft bei uns zu wenig.“
Ein Blick auf die Realitäten genügt, um zu erkennen, wie weit die Republik Kosovo davon entfernt ist. Noch immer sind gut 5.000 KFOR-Soldaten hier stationiert, obliegt Rechtsprechung der EU-Rechtsstaatsmission Eulex, die immer wieder in diffuse Korruptionsskandale verstrickt wird.
Überdies hat sich das Land von den Zwangsprivatisierungen nach Kriegsende nicht erholt. Etwa 600 Firmen wurden damals – unter anderem an Kosovo-Politiker – verkauft, während Zehntausende ihre Jobs verloren. Wenn die Erwerbslosigkeit nun bei fast 50 Prozent liegt, führen die Ursachen in jene Periode zurück. Ein auskömmliches Leben ist nur denen vergönnt, deren Verwandte Arbeit im Ausland gefunden haben und nun Geld in eine darbende Heimat schicken. 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden durch Überweisungen aus der Diaspora bestritten.
Hashim Thaçi hatte vor der Parlamentswahl 2014 versprochen, man werde in kurzer Zeit etwa 200.000 Arbeitsplätze schaffen. Im Jahr darauf suchten fast 100.000 Kosovaren ein soziales Refugium in den Staaten der EU. An ihrem unzerstörbaren Vertrauen in die Regierungspolitik kann das nicht gelegen haben.
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