Es gibt etwas zu feiern! Hassan ist draußen. Nach fünf Jahren. Raus aus dem Knast, endlich Freiheit. Der Taubenfelsen, der vor der glitzernden Promenade Beiruts aus dem Wasser ragt, strahlt im Sonnenlicht, als würde er gratulieren wollen. Junge Männer stürzen sich von den meterhohen Klippen und formen zur Feier des Tages im Flug Figuren, bevor sie elegant wie Eisvögel durch die türkis glitzernde Oberfläche des Wassers schießen.
Hassan, 25 Jahre alt, fläzt mit einer Kippe im Mund und Stöpseln in den Ohren auf einem hervorspringenden Felsen. Als ihm dann eine krachende Welle die offene Jack-Daniels-Flasche aus der Hand reißt, da springt er kurzentschlossen hinterher, um mit der Flasche im Mund – wie der Hund, der das Stöckchen holt – zurückzupaddeln. Er verzieht die Fresse, speit den mit Meerwasser angefüllten Whisky in die Fluten. Whisky-Salzwasser – nicht sein Ding, aber er säuft ihn dann trotzdem. Es ist Feiertag. Hassans freier Tag, erster Tag in Freiheit!
Hassan will reden, will erzählen. Und ich will zuhören. Bin auf eine merkwürdige Weise angefixt. Angefixt von diesem wilden fremden Mann, der so gar nicht in das heile Bild von Beiruts Strandpromenade passen will: Wo die wohlhabenden Studenten der American University ihre zu stark geschminkten Freundinnen zu Dates ausführen. Wo ausländische Touristen in den neu errichteten Nobelhotels verschwinden und gehetzte Geschäftsmänner über die Gehwege hasten.
Der Panther faucht
Und dann, pam. Schnitt. Die Geschichte Hassans, ein Riss in der Glitzer-Glamour-Fassade der libanesischen Hauptstadt und Hassans Körper das Geschichtsbuch dazu: Auf den muskulösen Unterarmen ein Krikelkrakel von Schlieren und Schnitten, als hätte sich ein Kleinkind mit dem Butterfly-Jagdmesser auf seinem Arm ausgetobt. Ein fauchender Panther auf dem linken Oberarm und ein kreischender Rabe auf dem rechten. Eine klaffende Narbe quer über dem linken Brustkorb. Ein markanter Cut in der Augenbraue, irgendwo dazwischen eine krumm geschlagene Nase. „Das sind Andenken aus der Nacht, die mich in den Knast gebracht hat – fünf Jahre für nichts“, erzählt Hassan. Um eine Frau sei es gegangen. Es wäre seine gewesen, also in dieser Nacht wäre es seine gewesen – und am Tag? Da ist sich Hassan nicht sicher. Wahrscheinlich die des anderen Typen. Der mit dem Butterfly-Messer. Der, dem der Richter Recht gab. Hassan sagt: „Der war einfach mit der Anzeige schneller.“
Diese ganze Nacht. Ein Verhängnis. Ein großer Unfall. Einer, den Hassan vergessen will. Diese Nacht aber, sie ist nicht Hassans Story. Hassans Story erzählen die Bilder auf seinem Smartphone: Hassan auf seinem Motocross-Bike in den syrischen Bergen. Hassan mit einer Pumpgun, Hassan mit angelegter AK-47. Hassan happy vor einem Lkw, beladen mit einem Dutzend Leichen. „Beute“, sagt er und verzieht das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Tote Krieger des „Islamischen Staats“, darauf ist er stolz.
Hassan ist selbst ein tapferer Krieger, so haben sie ihm das bei der Hisbollah, der „Partei Gottes“, für die er kämpft, erzählt. Hisbollah, das sind seine Kumpels, sagt er stolz, die ihn für vier Monate aus dem Knast geholt hatten, damit er in Syrien Terroristen umlegt; danach hat er den Rest abgesessen. Hisbollah, die schiitische Partei, die bis heute große Teile des Libanons unter ihrer Kontrolle hält. Deren bewaffneter Arm 1990, nach dem Bürgerkrieg, als einzige Miliz ihre Waffen behalten durfte, der Gunst Hafiz al-Assads, Baschars Vater und Vorgänger, sei Dank. Und die von jenen Waffen bis heute regen Gebrauch macht: Zunächst unter dem Vorwand, sich vor den Israelis zu schützen, irgendwann auch als innenpolitisches Druckmittel, zuletzt vor allem, um Außenpolitik zu machen: An der Flanke Baschar al-Assads in Syrien, mit Russland und dem Iran. Gegen Rebellen, egal welche, aber am liebsten die sunnitischen Terroristen: „Wenn wir sie in Syrien nicht aufhalten, haben wir sie bald bei uns. Also legen wir sie vor Ort um“ – Hassans Verständnis von Außenpolitik.
Miliz, Partei und Machtfaktor
Die schiitische Hisbollah formierte sich 1982 im libanesischen Bürgerkrieg unter iranischem Einfluss, als Antwort auf den Einmarsch Israels im Südlibanon. Heute ist die Hisbollah auch als Partei in der libanesischen Nationalversammlung vertreten, sie hält 14 der 128 Sitze im Parlament. Im Süden Libanons und in weiten Teilen der Bekaa-Ebene ist die Hisbollah stärkste politische und militärische Kraft.
Sie unterhält dort soziale Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser. Ziel der Hisbollah war einst die Errichtung eines islamischen Staats im Libanon. Heute hat sie es auf die Befreiung der Shebaa-Farmen im Süden des Landes von der israelischen Besatzung abgesehen. Übergeordnet geht es ihr unverhohlen um die Vernichtung Israels. 2006 entführte die Miliz zwei israelische Soldaten, worauf Israel mit einer Seeblockade und Luftschlägen gegen den Libanon reagierte. Es folgte ein Krieg, der einen Monat andauerte und mehr als 1.500 Menschen das Leben kostete. Am Ende stand der Abzug Israels und die Stationierung von libanesischem Militär und UN-Einheiten im Süden. Dies deklarierte die Hisbollah als Sieg um und feierte sich als Beschützerin der Zivilbevölkerung, da Libanons Militär während des Kriegs passiv geblieben war.
In der Folge wuchs ihre Popularität auch unter Anhängern nichtschiitischer Konfessionen. Kanada, die USA, Israel und die Arabische Liga stufen die Hisbollah als Terrororganisation ein, die Europäische Union wie Australien ausschließlich ihren militärischen Arm. An der Seite Russlands und des Irans kämpft die Miliz auch im Krieg in Syrien, um damit das alawitische Assad-Regime zu stützen
Dass die Hisbollah da in Syrien nicht nur IS-Kämpfer umlegt, erzählt mir Hassan nicht. Das erzählen mir meine syrischen Freunde in Deutschland und Österreich. Die geflohen sind vor Assad und seinen libanesischen Handlangern. Ich will Hassan da ja auch gar nichts unterstellen. Wahrscheinlich weiß er das auch gar nicht so genau, auf wen er da eigentlich ballert. Wer da ein Terrorist ist und wer ein gewöhnlicher Rebell; einer, der für Demokratie und Freiheit kämpft und nicht für irgendeinen Allah. Aber warum soll jemand wie Hassan das erklären können, wenn sich da nicht einmal die westlichen Kriegsparteien so richtig auskennen.
Seit er zwölf ist, ist Hassan ein Hisbollah. Und etwa zur gleichen Zeit scheint seine Entwicklung, die geistige, stehen geblieben zu sein. Er ist so jemand, der Streitigkeiten vorzugsweise mit den Fäusten regelt, da ihm die richtigen Worte fehlen. Wahrlich kein Diplomat. Eher ein sehr um maskuline Wirkung bemühter Auf-der-Straße-auf-die-Fresse-Rempler, der stets ungeduldig auf die Legitimation zum Zuschlagen wartet.
Die Kinder jubelten
Er ist einer, mit dem man lieber befreundet als verfeindet ist. Einer, der zu viel Leid und Leichen gesehen hat, um das auch nur ansatzweise verarbeiten zu können. Kurz: Einer dieser Fußsoldaten, wie sie herangezüchtet werden. Bei der Hisbollah, beim IS, in sämtlichen Armeen dieser Welt. Vollgepumpt mit Ideologie und Hass, was jede Form der Selbstreflexion qualvoll erstickt.
Ich muss an den Besuch in Mleeta denken. Eine Woche zuvor. Ein Dorf inmitten der libanesischen Berge. Eines, so klein und unscheinbar, dass sich dafür eigentlich niemand interessieren würde. Bäume und Berge bis zum Horizont. Schöne Aussicht. Postkartenmotiv. Mehr nicht. Mehr nicht, wären da nicht die wehenden Fahnen mit grünen Fäusten auf gelbem Grund. Fäuste, die Maschinengewehre in die Luft recken. Nicht die Konterfeis des Hisbollah-Generalsekretärs Hassan Nasrallahs, die milde von den Hauswänden lächeln. Würde der Fahrer unseres ächzenden Kleibusses nicht eine Kappe mit den eingestickten Buchstaben Hisbollah tragen und wie auf Knopfdruck Heldengeschichten abspulen.
Geschichten von diesem uneinnehmbaren Hort des Widerstands gegen die Israelis. An dem sich die Zahal, die israelischen Verteidigungsstreitkräfte, im Zweiten Libanonkrieg 2006 die Zähne ausgebissen haben. 1.200 Libanesen und 119 israelische Soldaten hat der Krieg das Leben gekostet. Auch Hassan will damals dabei gewesen sein. Das erzählt er. Als 15-jähriger Junge in seinem ersten Gefecht. Israelis töten, so wie er heute Terroristen tötet.
Dort oben in den Bergen wurde den Kämpfern ein Denkmal gesetzt. Ein eigenes Museum, in dem die Hisbollah sich selbst abfeiert. Umgekippte Panzer und Panzerfäuste mit sehr genauen Beschreibungen, welcher israelische Kommandeur damit wann wo in die Luft gejagt wurde. Bunker, Granaten und Porträts gefallener Krieger.
So ein bisschen Heroisierung des Gemetzels von einst, die den Waffenstillstand von 2006 zum großartigen Sieg der Hisbollah stilisiert. So ein bisschen Propaganda eben, ein bisschen so wie das auch in Kriegsmuseen in den USA ist.
Ich muss daran denken, wie ich im Kinosaal des Museums saß. Erste Reihe, neben mir Kinder. Fünf, sechs, vielleicht sieben Jahre alt. Vor mir die Leinwand, auf der Hisbollah-Kämpfer zu dramatischer Musik Maschinengewehrsalven abfeuern. „Tapfere Dschihadis“, Gotteskrieger, hat sie der Kommentator genannt. „Freiheitskämpfer“, so die etwas ungenaue Übersetzung für ausländische Touristen, Freiheitskämpfer, die blutüberströmt, aber glücklich die toten Leiber israelischer Soldaten durchs Bild ziehen. Die Kinder neben mir jubelten, kreischten, klatschten in die Hände; die Mutter dahinter wischte sich eine Träne von der Wange und wuschelte den Kleinen durch das Haar. Lauter kleine Hassans.
An all das muss ich denken, als wir zu siebt zusammengepfercht in einem alten Mercedes-Benz mit einem Deutschland-Aufkleber auf dem Lenkrad durch Beirut tuckern. Zu Hassan nach Hause.
Und dann stehen wir vor Hassans Haustür – also der seines besten Freunds Ali, wo er für ein paar Tage untergekommen ist. Es ist schon dunkel draußen, die Luft wird frischer, langsam atmet Beirut die giftig-stickigen Abgase aus, die es über den Tag tief eingesogen hat wie eine billige Zigarette. Der süße Duft von Shisha-Tabak legt sich über den Gestank von Scheiße und verrottendem Müll.
Da fliegt krachend die Tür im zweiten Stock des heruntergekommenen Wohnhauses im Viertel Mar Elias auf und bevor Hassan sich wegducken kann, knallt die flache Hand von Alis Mama auf seine vernarbte Wange. „Was denkt ihr, wer ihr seid, so lange wegzubleiben?“ Beschämt guckt Hassan auf den Boden. „Die Schuhe bleiben vor der Haustür und die dreckigen Socken kommen in den Waschbottich!“
Hassan macht keinen Mucks und tut wie ihm befohlen. Ist plötzlich ganz klein. Kein Krieger, kein Held, kein IS-Killer-Killer, der da steht. Mehr ein kleiner Junge in viel zu großer Rüstung, den man in den Arm nehmen und feste an sich drücken will. Der traurig ist, dass seine Mutter in die Türkei geflohen ist und der Großteil seiner Familie inzwischen in Deutschland lebt, wohin man ihn nicht ausreisen lässt. „Gott sei Dank“, denke ich und erschrecke fast ein bisschen vor mir selbst. Einer, der grinst, wenn Alis Mutter ihm ein Sandwich mit Mortadella zubereitet.
Hassan, eine verlorene Seele, ein Fußsoldat, allerhöchstens eine klitzekleine Fußnote in der heroischen Hisbollah-Saga. Kein Ruhm, keine Ehre für den Kampf, am Ende doch mehr die Verachtung für einen tollpatschigen Proleten, der sich so angeberisch ungeschickt durch die Straßen der Metropole Beirut schiebt. Eine Metropole, in der Stärke am Kontostand und nicht im Nahkampf gemessen wird.
Vielleicht wird Hassan es nicht mehr lernen. Vielleicht wird er noch mal nach Syrien gehen, um dort den „Libanon zu schützen“, vielleicht wird ihm bei der nächsten Disco-Schlägerei jemand das Messer nicht über den Arm jagen, sondern durchs Herz. Dann werde ich trotzdem froh sein, ihn kennengelernt zu haben, den gutmütigen Jungen mit den Narbenarmen, der uns an diesem Tag auf einen Whisky-Salzwasser eingeladen hat. Uns an diesem Abend mit nach Hause genommen hat, um für uns zu kochen. Um uns zu beweisen, dass er kein Terrorist ist und die Hisbollah nicht durchweg böse. Mir bewiesen hat, dass Menschen nicht gut oder böse sind. Sondern meistens irgendwas dazwischen. Dass es Ideologien – und der Nahe Osten ist voll davon – sind, die blöd im Kopf machen, Hirne ausknipsen, Hass sähen, wo sonst vielleicht nicht Freundschaft, aber zumindest Gleichgültigkeit wäre. Mit Sunniten spricht Hassan nicht – aus Prinzip. Israelis hat er nie kennengelernt und auch einen Juden nicht – trotzdem findet er Hitler ein bisschen geil.
Mit flehendem Blick wendet sich Alis Mutter mir zu, als sie den dichten Rauch der Shisha aus den bebenden Nasenflügeln pustet, packt mich am Arm: „Kennst du nicht irgendein Mädchen? Irgendeine Hässliche, die Hassan zur Frau nehmen könnte?“ Sie schaut bedrückt und murmelt. „Ja, eine Frau. Wenn nicht die, dann kann den Jungen gar niemand mehr retten.“
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