Deutschland braucht Facharbeiter und Akademiker. Das sagen die Zahlen, das sagen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Allein bis 2020 werden nach Angaben der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 1,2 Millionen Fachkräfte fehlen, mehr als 500.000 davon mit Hochschulabschluss. Im April hat Innenminister Thomas de Maizière noch verkündet: „Wir brauchen ein Zuwanderungsmarketing. Wir müssen da gezielt Werbung machen für unser Land, wo wir wollen, dass die Menschen zu uns kommen.“
Es ist eine Argumentation, die auch die Flüchtlingsdebatte begleitet. Laut aktueller Prognosen kommen in diesem Jahr etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland. Das sind bei weitem nicht alles Akademiker. Nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) haben etwa zehn Prozent einen Hochschulabschluss. Viele haben aber auch eine Ausbildung, der in Deutschland vielleicht kein direktes Äquivalent gegenübersteht, die es aber ermöglicht, in bestimmten Berufen nach relativ kurzer Zeit die Tätigkeiten einer Fachkraft zu übernehmen.
Hinzu kommen Tausende Zuwanderer aus dem krisengeschüttelten Süden und Osten Europas, wo die Jobaussichten für junge Menschen düster sind. 37 Prozent von ihnen sind Akademiker. Genug Potenzial also, um die Lücke auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu stopfen. Ein Puzzleteil könnte sich zum anderen fügen. Könnte ...
Die Realität sieht anders aus. Die Erfahrungen der meisten Neuankömmlinge zeigen: Die schnelle Integration in den deutschen Arbeitsmarkt ist eine Illusion. Die Anerkennungsverfahren haben mit der Realität des Arbeitsmarkts oft wenig zu tun. Arbeitserfahrung und Qualifikationen werden den Leuten abgesprochen. Die Regelungen sind nicht transparent, nicht einheitlich und auch nicht wirtschaftlich. Nur eines sind sie mit Sicherheit: bürokratisch.
Zen Hamode
31, aus Syrien, früher Rechtsanwalt, jetzt Falafel-Verkäufer
„Ich haben meine Würde gegen das Leben getauscht. Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte, ich habe hier eine Perspektive. Stattdessen liege ich nachts im Bett und weine manchmal wie ein Baby. Tagsüber verkaufe ich Falafel für 50 Cent. Es gibt Tage, da stelle ich mir vor, wie es wäre, jetzt wieder nach Damaskus zurückzukehren.“
Oft bleibt höhergebildeten Migranten wegen der widersinnigen Regularien daher nur der Weg in Berufe weit unter ihrer Qualifikation, wenn nicht gar die Flucht in die Schwarzarbeit. In diesem Text erzählen vier Migranten ihre Geschichten vom deutschen Arbeitsmarkt. Sie zeigen, wie Deutschland motivierte Menschen ausbremst und volkswirtschaftliches Potenzial verschleudert. Und sie erzählen von individuellen Tragödien, von Mühsal, Scham, Enttäuschungen. Deshalb wurden die Namen aller vier Betroffenen geändert.
Zwei Jahre zu wenig
Mathelehrerin hatte Inna Graf eigentlich nie werden wollen. Sie hatte 1992 in Moskau ihr Ingenieurdiplom gemacht, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion. Sie heiratete einen Mann aus Kasachstan und zog mit ihm in dessen Heimat. „Damals dort als Ingenieurin Arbeit zu finden? Das war unmöglich. Alle Aufträge waren weg, die Betriebe wurden geschlossen, die Arbeiter entlassen.“ Also schulte sie um auf Mathelehrerin. Ein Aufbaustudium, Mathematik und Informatik auf Lehramt, drei Jahre lang, das war genug. Aber zwei Jahre zu wenig, um später als Lehrerin in Deutschland arbeiten zu können. Nur ahnen konnte sie das damals nicht.
„Lehrerin war meine Berufung: Ich habe mich nie mehr so gut gefühlt wie in der Begabtenschule mit meinen Schülern in Kasachstan“, sagt sie. Dann geht aber ihre Ehe zu Bruch. Sie wandert nach Griechenland aus, wo ein Teil ihrer Familie lebt. Doch als Russland-Griechen werden sie dort diskriminiert. Inna Graf fühlt sich nicht wohl. Sie verliebt sich in Frank, einen Deutschen. Sie folgt ihm nach Deutschland und heiratet ihn.
Dem privaten Glück sollte das berufliche folgen. Schließlich werden in Deutschland Lehrer in einigen Fächern händeringend gesucht, der Philologenverband spricht von 30.000 Lehrkräften, die fehlen. Vor allem in Physik, Chemie und Mathematik. Nach einem Jahr hat sie das B2-Level in Deutsch. Ihr Ingenieurdiplom wird voll anerkannt, ihr Lehramtsstudium aber nicht. Aufbaustudien gibt es beim Lehramt in Deutschland nicht, darum erhält sie nicht mal eine Teilanerkennung. Sie versucht es als Ingenieurin. „Ich habe mich beworben, beworben, beworben. Ich hatte ja einen Master. Und ich hatte so viel Hoffnungen in Deutschland.“ Aber es folgt Absage auf Absage. „Kein Wunder. Ich hatte ja nie als Ingenieurin gearbeitet, ich kann das gar nicht. Was ich kann, ist unterrichten.“ Aber das darf sie nicht. Es ist paradox. Und die Geschichte über eine misslungene Integration in den deutschen Arbeitsmarkt ist hier noch nicht zu Ende: „Ich wollte arbeiten, egal was, ich kann doch nicht den ganzen Tag daheim rumsitzen, und irgendwie muss ich mir meine Rente verdienen.“

Illustrationen: Sophia Martineck für der Freitag
Inna Graf
46, aus Kasachstan, früher Mathelehrerin, jetzt Kinderbetreuerin
„Lehrerin bin ich, das darf ich aber nicht arbeiten. Als Ingenieurin darf ich arbeiten, weil mein Diplom anerkannt wurde. Das kann ich aber nicht. Meine ganze Erfahrung als Lehrerin interessiert hier keinen, 14 Jahre einfach ausgelöscht. Ehrlich, wir hatten auch Bürokratie, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.“
Wäre da nur nicht der Akademikertitel, der jetzt zur Bürde wird: „Ich habe mich als Bäckerin, Verkäuferin und Museumsaufsicht beworben. Es kamen wieder Absagen.“ Diesmal mit anderer Begründung: „Wir würden Sie gern einstellen, aber Sie sind überqualifiziert.“ Nach einem Jahr Papierstapel-Ausfüllen, einem Gutachten und viel Warten bekam sie 2013 die Erlaubnis vom Amt: Sie dürfe sich in München zur Bürokauffrau umschulen lassen. „Aber von den Lehrenden sprachen alle Bayrisch – bis auf einen. Ich habe nichts verstanden, obwohl ich doch Deutsch spreche. Als ich dem Direktor gesagt habe, dass ich nichts verstehe, war die Antwort: Schauen sie auf die Karte, wo wir sind, und lernen Sie die Sprache.“ Nein, nicht Deutsch, Bayrisch! Inna Graf wird krank – und schmeißt hin.
Über ihre Schwester findet sie 2013 doch noch einen Job: als Nachmittagsbetreuung in der Ganztagsschule. Die Kinder beim Essen beaufsichtigen, mit ihnen Hausaufgaben machen, spielen. Es gefällt ihr, auch wenn sie keine Lehrerin mehr ist. Nach zwei Jahren ist aber wieder Schluss. Ihr Vertrag wird nicht verlängert, sie wird mit Top-Zeugnis entlassen. Nach der Zweijahresfrist muss der Arbeitgeber einen unbefristeten Vertrag schließen. Der will das aber nicht. Einmal mehr hat Inna Graf, die doch sehr gern arbeiten möchte, Pech gehabt.
Die Geschichten von akademischen Zuwanderern ähneln sich unabhängig von ihrer Herkunft an einem entscheidenden Punkt. Es geht immer wieder um die Anerkennung von Abschlüssen, die Vergleichbarkeit der erworbenen Qualifikationen. Bei der Arbeitsvermittlung und vielen Arbeitgebern gibt es eine Fixierung auf Zertifikate. Arbeitserfahrungen, die Migranten mitbringen, Kompetenzen, die sie sich angeeignet haben, aber nicht mit Dokumenten belegen können, die sich ins deutsche Bildungsraster übersetzen lassen, zählen praktisch nichts. Auch wenn es Bestrebungen gibt, die Anerkennungsverfahren flexibler und realitätsnäher zu gestalten, hat sich hier bisher noch nicht viel bewegt.
Als Ärztin in die Bäckerei
Das zeigt auch Sabrina Nagys Fall. Dabei sah die junge Frau aus Ungarn ihr neues Leben genau vor sich, als sie vor drei Jahren nach Deutschland kam: eine frisch promovierte Ärztin mit einem Abschluss aus der Ukraine – und frisch verliebt in einen Deutschen. Doch die Realität zerfetzte ihre Hoffnungen, ehe sie wirklich angekommen war: Für den verheirateten Liebhaber, stellte sie in Deutschland schnell fest, war sie nicht mehr als eine Ostblock-Mätresse.
Blieb die Arbeit. Aber ihr Doktortitel war auch nichts wert. Fast nichts. „Am Anfang wollte mir das Berliner Schulamt nicht mal eine Hochschulzugangsberechtigung ausstellen. Weil ich mein Abi in Ungarn gemacht habe. Was ist das für eine Welt, in der ein ukrainischer Doktortitel weniger zählt als ein deutsches Abitur?“ Für Sabrina Nagy ist das trotzdem kein Grund, aufzugeben. Zwei Jahre lang lässt sie Zeugnisse anerkennen, schickt unzählige Bewerbungen an Universitäten überall in Deutschland. Mehrere tausend Euro kostest sie das. „Ich dachte, irgendwann wird es schon klappen, dann hat es sich gelohnt“, sagt sie heute. „Was ich alles vorweisen und beglaubigen musste: alle Zeugnisse, erstes bis zwölftes Semester, das Diplom, Cambridge-Zertifikate für Deutsch und Englisch. Auch wenn du die Sprachen schon fließend kannst, brauchst du einen Sprachkurs, weil ohne diesen wirst du nicht zur Prüfung zugelassen.“
Die Belohnung des Aufwands: eine Teilanerkennung. Acht Semester werden ihr angerechnet. Es ist ein Trostpreis. Denn quer einsteigen in ein Medizinstudium ist fast unmöglich. „Wer bricht nach acht Semestern ein Studium ab, in das er nur dank eines 1,0-Notenschnitts gekommen ist?“ Sabrina Nagy klingt verbittert.

Illustrationen: Sophia Martineck für der Freitag
Sabrina Nagy
28, aus Ungarn, früher Ärztin, jetzt Verwaltungsangestellte
„Ich bin pleite, dank Deutschland. Ich bin mit 10.000 Euro gekommen und heute habe ich nach einem Anerkennungsmarathon 3.000 Euro Schulden. Trotzdem habe ich keinen neuen Studienplatz bekommen und muss schauen, wie ich meinen Lebensunterhalt zusammenkratze. Und dann sehe ich Leute, die haben keine Ahnung und dürfen studieren.“
Wie viele Bewerbungen sie rausgeschickt hat, weiß sie heute nicht mehr. An ihrem Traum, irgendwann doch noch im Krankenhaus zu arbeiten, hält sie fest. Sie bewirbt sich auf Aushilfsjobs in der Klinik, als ärztliche Assistentin. „Für duale Studien war ich zu alt, für Hilfsjobs im Krankenhaus überqualifiziert. Eine negative Rückmeldung nach der nächsten. Irgendwann habe ich angefangen, absichtlich Fehler in die Aufnahmetests einzubauen, damit ich wenigstens zum Vorstellungsgespräch eingeladen werde.“
Während dieser Zeit hangelt sie sich von einem schlecht bezahlten Minijob zum nächsten. Geld hat sie schon lang keines mehr. Sie kellnert, arbeitet in Hotels. Aus der Not heraus fängt sie 2013 eine Ausbildung als Bäckerin an. Längst haben die nicht enden wollenden Absagen und die vielen kleinen Demütigungen im Alltag ihre Psyche angekratzt. „Für die Kunden bist du immer die dumme Ausländerin, die nichts gelernt hat. Deine Mitarbeiter halten dich aber für allwissend und superschlau, weil du ja Medizin studiert hast.“ Als eine Folge der vielen Absagen entwickelt sie Versagensängste. „Ich hatte das Gefühl, nichts mehr wert zu sein. Alle legen dir nur Steine in den Weg. Vor den Tests in der Berufsschule habe ich mich dann erbrochen.“ Das erzählt eine junge Frau, die immerhin zwei Staatsexamen erfolgreich gemeistert hat. „Ich wollte nur noch zurück nach Ungarn. Aber wie? Ich hatte ja kein Geld mehr.“
Eigentlich hat Sabrina Nagy den Traum von einem Leben in Deutschland längst aufgegeben, als im Sommer die Zusage von HELIOS kommt – für einen Job als Verwaltungsangestellte im Krankenhaus. Prüfen, ob die Ärzte richtig codieren, sich mit Versicherungen rumschlagen. Ein bisschen kann sie seitdem wieder träumen. Ein kleines bisschen. „Wenn die Ukraine irgendwann noch in die EU kommt“, sagt sie und lächelt, „bekomm ich meinen Abschluss vielleicht doch noch anerkannt.“
Da klingt es geradezu zynisch, wenn die Bundesagentur für Arbeit schreibt: „Besonders benötigt werden Akademiker im Bereich der Humanmedizin und in den sogenannten MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik).“ Gleichzeitig werden Akademiker mit ebendiesen Abschlüssen von der Gesetzgebung regelrecht demontiert.
Jenseits des Erlaubten
Wie soll angesichts der vielen Flüchtlinge dann Arbeitsmarktintegration im großen Stil funktionieren? Das Arbeitsverbot für Asylbewerber wurde zwar inzwischen gelockert. Schon nach drei Monaten dürfen sie nun arbeiten. Dürften. Theoretisch. Denn der Arbeitsmarktzugang deckt sich nicht mit den asylpolitischen Bedingungen, an die er geknüpft ist. Jürgen Wursthorn, Pressesprecher der Agentur für Arbeit, fordert daher: „Wir brauchen eine Beschleunigung der Asylverfahren, um schneller die rechtlichen Voraussetzungen für die Vermittlung in Arbeit zu haben.“ Damit Warten und Unsicherheit schneller ein Ende haben.
Manche Flüchtlinge halten das monatelange Warten irgendwann nicht mehr aus und suchen sich auf eigene Faust eine Arbeit, abseits der rechtlichen Bestimmungen. So wie Zen Hamode. „Falafel“, ruft er und streckt einem Jungen mit Skateboard unterm Arm eine Plastiktüte hin. „50 Cent, shukran.“ Es ist das wahrscheinlich billigste Falafel Berlins, das der Syrer in der kleinen stickigen Bude in Kreuzberg verkauft. Das Falafel schmeckt ganz gut. Kein Wunder, denn statt an Zutaten spart Hamodes Chef lieber beim Personal. Acht Stunden pro Tag, 30 Tage im Monat, dafür gibt es 500 Euro. Mit Mindestlohn hat das nichts zu tun, legal ist es schon gar nicht. Zen Hamode ist das aber egal. Viele Alternativen hat er ja nicht. „Jede Sekunde, die ich arbeite, muss ich nicht nachdenken. Würde ich wie meine Freunde den ganzen Tag im Heim sitzen, würde ich depressiv werden.“
Seine Freunde warten zurzeit in einem Heim in Niedersachsen darauf, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden. „Wir wohnten da im Nirgendwo. Der nächste Supermarkt ist zehn Kilometer weg, an Deutschkurse nicht zu denken.“ Hamode ist nach Berlin gekommen, sagt er, um nicht verrückt zu werden.
Er ist 31 Jahre alt, sieht aber älter aus. Wenn er redet, klingt er unsicher. Sein Selbstwertgefühl hat er irgendwo in einem italienischen Flüchtlingslager verloren. Daran, dass er bis vor wenigen Monaten ein erfolgreicher Anwalt in Damaskus war, erinnern nur noch seine genau gescheitelten Haare. „Ich habe nie einen Fall verloren. Noch heute rufen Menschen bei meinem Vater an, die wollen, dass ich sie verteidige.“ Die Kanzlei hatte er von seinem Vater übernommen. Der war sehr stolz auf den Erfolg des Sohns gewesen, der laufend Aufträge an Land zog. Heute schämt sich der Sohn, zu Hause anzurufen, weil er nichts erreicht hat. Nur gedemütigt wurde. „Ich will nicht, dass mich mein Vater jemals so sieht.“

Illustrationen: Sophia Martineck für der Freitag
Aldareny Camara
24, aus Guinea, früher Versicherungsmakler, jetzt Drogenverkäufer
„Dafür habe ich doch nicht meinen Bachelor an einer französischen Uni gemacht und eine Firma in Guinea gegründet. Damit ich jetzt im Park rumlaufe und für Leute Drogen verticke, die nicht mal lesen können. Mein Leben ist gerade echt scheiße.“
Ob er je wieder als Anwalt arbeiten wird, weiß er nicht. Wie Lehrer und Mediziner gehört Jura zum Bereich der reglementierten Berufe. In Zen Hamodes Fall heißt das: Anerkannt wird gar nichts. „Ich habe sechs Jahre studiert, auch internationales Recht, habe sechs Jahre als Anwalt gearbeitet und jetzt wird mir gesagt, das ist nichts wert?“
Er wünscht sich, dass wenigstens ein Teil seiner Fähigkeiten anerkannt würde. Noch mehr wünscht er sich aber, dass er einen sicheren Aufenthaltsstatus bekommt. Er hat Angst, dass er wieder zurück nach Italien muss, wo er seinen Fingerabdruck abgegeben hat. Gerade hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière bekanntgegeben, dass das Dublin-Verfahren bereits seit dem 21. Oktober wieder angewandt wird. Nach der Dublin-Verordnung ist dasjenige EU-Land für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig, in dem der Flüchtling das erste Mal den Boden der Europäischen Union betreten hat.
„Ich habe Schiss“, sagt Hamode. „Länder wie Italien und Ungarn kassieren Geld von der UN dafür, dass sie uns wie Dreck behandeln. Bevor ich zurück nach Italien gehe, gehe ich lieber heim nach Damaskus.“ Lieber ein Tod in Würde als ein Leben voll Demütigung, findet er.
Auch Aldareny Camara schämt sich dafür, wie er sein Geld verdient. Er lehnt an einer Wand vor einem Restaurant am Görlitzer Bahnhof in Berlin. Dort, wo er jeden Freitag steht. Er und die anderen jungen Schwarzafrikaner, die hier Drogen an Partygänger verticken. Der junge Mann aus Guinea ist nervös, immer wieder schaut er sich um. „Ich habe verdammte Angst. Wenn ich meine 25 Euro zusammenhabe, bin ich weg“, sagt er. 25 Euro, so viel, dass er für die nächste Woche genug zu essen hat. „Glaub mir, ich will das nicht machen. Am liebsten würde ich nach den Gesetzen leben. Aber der Staat macht mir das unmöglich.“
2012 hat er sein Marketingstudium an der Universität von Toulouse mit einem Bachelor abgeschlossen. Er kehrte in die guineische Hauptstadt Conakry zurück, um dort seine eigene kleine Firma zu gründen. Kfz-Versicherungen, das Know-how und die nötigen Kontakte ins Ausland hatte er durch sein Studium in Europa. Er wollte seiner Heimat eine Chance geben, es trotz widriger Bedingungen versuchen.
Und er hatte Erfolg, die Leute vertrauten ihm: „Wir waren zu dritt, nach ein paar Monaten haben wir 900 Euro monatlich gemacht.“ Viel Geld in einem Land, in dem die Bürger im Schnitt gerade mal 1.100 US-Dollar im Jahr verdienen. Zu viel Geld in einem Land, das auf Platz 145 des Korruptionsindexes steht. Obwohl Camara die Steuern zahlt, wird er ins Wirtschaftsministerium einbestellt. „Ich wurde vorgeladen. Sie sagten mir, ich solle zahlen, wenn ich weiter mein Geschäft machen will. Ich hatte keine Chance. Also zahlte ich.“ Doch es kommen weitere Briefe mit weiteren Forderungen. Er ignoriert sie. Ein paar Nächte später wird sein Büro von der Polizei durchsucht und der Laden dichtgemacht. „Das ist der Unterschied: In Deutschland werden junge Unternehmer vom Staat gefördert, in Guinea werden sie gefressen.“
Fluchtpunkt Berlin
Er flieht. Was soll er auch tun? Die Perspektiven in seiner Heimat sind für ihn geplatzt wie Seifenblasen, für Frankreich bekommt er kein Visum mehr. Über Libyen und Lampedusa gelangt er nach Deutschland. Im vergangenen Herbst landet er in Recklinghausen. „Ich hatte einen Plan: Ich wollte so schnell wie möglich Deutsch lernen, dann arbeiten oder noch mal studieren.“ Doch so einfach ist das nicht. Ein Recht auf einen Deutschkurs hat nur der, dessen Aufenthaltstitel entschieden ist. Das kann Monate dauern, manchmal Jahre. „Was soll ich in der Zwischenzeit tun: schlafen, essen, warten?“ Welcher junge Mensch mit Zielen kann das schon auf Dauer? Also macht sich Camara wie Zen Hamode auf den Weg. Er geht in die Hauptstadt. Um Arbeit zu finden und Deutsch zu lernen.
Wohnen kann er heute bei einem Freund. Für sein Essen steht er am Görlitzer Park und vertickt. Jedes Wochenende. Inzwischen manchmal auch unter der Woche abends. Er besucht jetzt auch einen Deutschkurs. Der kostet nur 20 Euro im Monat. „Es sind viel zu viele Leute, aber es ist die einzige Möglichkeit, endlich die Sprache zu lernen“, sagt er auf Deutsch.
Inzwischen hat er über die Online-Vermittlungsplattform workeer.de auch einen Praktikumsplatz gefunden, in einer Logistikfirma. „Ich will verstehen, wie die deutsche Arbeitsweise funktioniert.“ Sein Chef würde ihn gern als Aushilfskraft übernehmen – das hat er zumindest gesagt. Aber wie immer in Aldareny Camaras Leben gibt es da Haken: Erstens hat er keinen sicheren Aufenthaltsstatus, und zweitens sind die bürokratischen Auflagen zu hoch.
„Selbst Menschen, die noch auf den Aufenthaltstitel warten, dürfen nach drei Monaten arbeiten – theoretisch“, sagt Cafer Kocadag. Fälle wie der von Hamode oder Camara landen täglich auf seinem Schreibtisch. Er ist für die Erstberatung von Flüchtlingen beim Berliner Netzwerk für Integration (bridge) zuständig. „Aber die bürokratischen Hürden sind immer noch abschreckend für Arbeitgeber.“
Hürden wie die Vorrangprüfung. Das heißt, dass der Arbeitgeber einen Asylbewerber nur dann einstellen darf, wenn für dieselbe Stelle kein anderer deutscher oder EU-Bürger gefunden werden kann. Erst 15 Monate nach Arbeitsbeginn erlischt die Vorrangprüfung. „Da werden Zahlen herumgewälzt, und es wird immer jemanden geben mit ähnlichen Qualifikationen. Mit dem realen Arbeitsmarkt hat das wenig zu tun“, sagt Kocadag. Hinzu kommt, dass Asylbewerber nicht in den Status eines Arbeitsmigranten wechseln dürfen. Selbst mit gültigem Arbeitsvertrag können sie abgewiesen werden und müssen in der Botschaft ihrer Heimat einen Antrag stellen. Es ist nur eines der vielen Paradoxe des deutschen Arbeitsmarktes.
Der Syrer Zen Hamode hat seine Erfahrungen so zusammengefasst: „Ich dachte, dass mir nach all dem Unrecht und Unglück in Deutschland endlich Gerechtigkeit widerfährt. Ich habe mich getäuscht.“
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