20 Jahre Schröder/Blair-Papier

Zum Niedergang der SPD 1999 veröffentlichen der deutsche und der britische Regierungschef eine Programmatik, die das Ende der europäischen Sozialdemokratie einläutet. Ein kritisches Requiem

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Hauptsache irgendwie neu: Tony Blair und Gerhard Schröder
Hauptsache irgendwie neu: Tony Blair und Gerhard Schröder

Foto: Nicolas Asfouri/AFP via Getty Images

Es kann kaum noch bezweifelt werden, dass die auf Dauer gestellte Große Koalition für die SPD fatale Folgen hat. Zwar kann sie punktuell Programmpunkte umsetzen, geht am Ende ihrer Lebenszeit aber nurmehr als eine Garantie der Kanzlerschaft Angela Merkels in die Geschichte ein. Wenn mit dem Ausscheiden Merkels aus der Politik auch die SPD aus der politischen Landschaft Deutschlands verschwindet, werden vielleicht zwei oder drei TV-Talkshows fragen, wie es soweit kommen konnte (aber vielleicht auch nicht). Die Antwort liegt in ein paar Seiten Papier, dass Gerhard Schröder und Tony Blair vor zwanzig Jahren veröffentlichten.

Ab in die Mitte

Nach den vergangenen Bundestagswahlen – und nach 2017 wurde dies besonders deutlich – rechtfertigten die SPD-Funktionäre ihre Koalition mit der Union immer wieder mit einer staatstragenden Räson: Um den extrem rechten Rand durch Neuwahlen nicht noch stärker werden zu lassen, übernimmt die SPD Verantwortung in der Regierung als Juniorpartner. Doch machen die Genossen es sich damit nicht zu einfach? Wenn der gegenwärtige Aufstieg des Rechtsextremismus in Deutschland auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass die Parteien durch ihren allzu kompromissbereiten Mitte-Kurs für den Wähler ununterscheidbar geworden sind, müsste dann nicht aus Verantwortung für den Staat der jahrzehntelange Konsens und Kompromiss mit dem politischen Gegner vermieden werden?

Dieser Schritt erfordert allerdings ein grundsätzliches Umdenken. Einmal abgesehen vom Streben nach den begehrten Ministerämtern und den Posten als Staatssekretäre, die mit einer Regierungsbeteiligung verbunden sind, müsste sich die Partei von zwei Mantras befreien, die sie von ihren Altvorderen geerbt hat: Franz Münteferings Wertung »Opposition ist Mist« und Gerhard Schröders tödlichen Ratschlag »Wahlen werden in der Mitte gewonnen«. Die SPD rechtfertigte jede ihrer vergangenen und gegenwärtigen Beteiligungen an der Großen Koalition damit, dass es gut sei, mitzuregieren. Die Logik ist verführerisch: Es bestehe doch das Interesse daran, sozialdemokratische Inhalte in die Tat umzusetzen, da dies das Land aus SPD-Sicht voranbringe. Wie anders könne man dieses Ziel erreichen als in der Regierung – sei es auch als Juniorpartner einer unionsgeführten Koalition? In diesem Sinne ist die Rolle der Oppositionspartei, wie Müntefering sagte, tatsächlich Mist.

Lässt man sich allerdings von dieser Logik verführen, dann zeugt dies von einer generellen Abwertung der demokratischen Institutionen. Im politischen Betrieb ist die Opposition alles andere als »Mist«. Zusammen mit der Justiz und den freien Medien ist sowohl die parlamentarische als auch die außerparlamentarische Opposition das wichtigste Mittel, um die Regierungsparteien zu kontrollieren und unter Druck zu setzen. Gute oppositionelle Arbeit im Parlament – die sich in geschickten Anfragen an die Regierung sowie in der zivilgesellschaftlichen Agitation ausdrückt – übt Druck auf die herrschende Klasse aus, dem sich die Regierungsparteien nicht lange entziehen können.

Es ist ein absurder Abgesang auf die demokratischen Prozesse, wenn deutsche Politiker beklagen, dass in Staaten wie Russland oder Türkei die Opposition unterdrückt würde, aber gleichzeitig die Rolle der Opposition im deutschen Parlamentsbetrieb derart abwerten. Wenn die Opposition tatsächlich Mist ist, dann – so möchte man Müntefering fragen – sollten wir wohl in einem Staat ohne Opposition leben?! Da Müntefering dies nicht wirklich wollen kann, muss seine Wertung wohl so verstanden werden: Dass die Opposition Mist ist, heißt eigentlich nur, dass die Fleischtöpfe der Macht in der Opposition weniger gut gefüllt sind. Damit wird allerdings der staatstragende Akt der SPD als Opportunismus und Egoismus entlarvt.

Das zweite Mantra, Wahlen würden in der Mitte gewonnen, ist das eigentliche Übel, das sich nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern parteiübergreifend etablieren konnte. Seinen Ursprung hat dieses Mantra in der britischen Sozialdemokratie des späten 20. Jahrhunderts. Was sich in der SPD als »Neue Mitte« ideologisch festsetzte (und bis heute nicht gewichen ist), ist eine programmatische Öffnung zur britischen Labour-Partei, die sich unter Tony Blair mit dem Etikett »New Labour« neu erfand. New Labour steht in enger Verbindung zu den theoretischen Betrachtungen des britischen Politikwissenschaftlers Anthony Giddens. Dieser hatte 1999 in seinem Buch Der dritte Weg Forderungen zu einer Transformation der Sozialdemokratie formuliert, die nötig seien, um die klassische sozialdemokratische Politik im Angesicht der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zukunftsfähig zu machen. Ein dritter Weg ist es deshalb, weil Giddens eine Überwindung des Gegensatzes zwischen dem Neoliberalismus der Thatcher-Ära und der auf Sozialstaat und Industriearbeitsplätze ausgerichteten Politik der klassischen Sozialdemokratie versucht.

Ein kleines Stück Papier

Die politische Essenz von Giddens' drittem Weg ist das sogenannte Schröder/Blair-Papier, welches vom deutschen und britischen Regierungschef kurz vor der Europawahl 1999 unter dem Titel »Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten« veröffentlicht wurde. Der Text kann als programmatische Streitschrift zweier sozialdemokratischer Wortführer verstanden werden, in der grundlegende Ausrichtungen der Sozialdemokratie in Zweifel gezogen werden. Nicht zuletzt wegen seiner einer marktorientierten, neoliberalen Einlassungen ist das Papier heftiger Kritik von links ausgesetzt.

Die aufkommenden Auseinandersetzungen zwischen linken Sozialdemokraten und den Verfechtern des Mitte-Kurses beginnen schon in der Personalie der Autoren des Schröder/Blair-Papiers. Diese sind nämlich nicht – wie man vermuten könnte – der deutsche Kanzler und der britische Premierminister, sondern Kanzleramtschef Bodo Hombach und der englische Industrieminister Peter Mandelson. Es war Hombach, der gegen den Willen des damaligen SPD-Vorsitzenden und Finanzministers Oskar Lafontaine von Gerhard Schröder im Kanzleramt installiert wurde. Mit dieser Personalie besetzte Schröder eine Schlüsselstelle in deutschen Regierungsapparat mit einem starken Befürworter seines Mitte-Kurses und konnte so den Weg der Neuen Mitte gegen den linken Parteiflügel um Lafontaine in Stellung bringen. Der plötzliche Rückzug Lafontaines von allen Partei- und Regierungsämtern – und vorläufig sogar generell aus der Politik – fällt in die kurze Zeit zwischen der Besetzung des Kanzleramts mit Hombach und der Veröffentlichung des von Hombach mitverfassten Papiers.

Doch blicken wir lieber auf die programmatischen Punkte des Schröder/Blair-Papiers, um die Transformation der Sozialdemokratie und das Mantra der Mitte besser zu verstehen. Schon einleitend geben die Autoren klar zu verstehen, dass ihr Bestreben in nichts anderem besteht als einer grundlegenden Neuausrichtung der sozialdemokratischen Programmatik: »Obgleich Sozialdemokraten und Labour Party eindrucksvoll historische Errungenschaften vorweisen können, müssen wir heute realitätstaugliche Antworten auf neue Herausforderungen in Gesellschaft und Ökonomie entwickeln. Dies erfordert Treue zu unseren Werten, aber Bereitschaft zum Wandel der alten Mittel und traditionellen Instrumente.« Ob diese Notwendigkeit, die hier unterstellt wird, tatsächlich gegeben war, kann durchaus bestritten werden. Die politische und ökonomische Lage in Deutschland und Großbritannien lässt sich nicht umstandslos miteinander gleichsetzen. Wenn von »neuen Herausforderungen in Gesellschaft und Ökonomie« die Rede ist, so meinen die Autoren damit den vermeintlichen wirtschaftlichen Wandel von einer Industriegesellschaft hin zu einer flexibleren Dienstleistungsgesellschaft. Dementsprechend heißt es in diesem Papier: »Unsere Volkswirtschaften befinden sich im Übergang von der industriellen Produktion zur wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft. Sozialdemokraten müssen die Chance ergreifen, die dieser wirtschaftliche Umbruch mit sich bringt.«

Der Wegfall der Industriearbeitsplätze wird im Schröder/Blair-Papier jedoch durchweg übertrieben – zumindest aus deutscher Sicht. Zwar geht auch in Deutschland die Zahl der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe zurück, jedoch keinesfalls so drastisch wie in Großbritannien, wo Ende der 1990er Jahre nicht einmal mehr 20% der erwerbstätigen in der Industrie beschäftigt sind. Die deutschen Sozialdemokraten öffnen sich damit einer Politik, die eher auf das Mutterland der industriellen Revolution zugeschnitten ist. Die »Bereitschaft zum Wandel der alten Mittel und traditionellen Instrumente« kann deshalb als Abwendung der SPD von ihrer klassischen Wählerschaft, dem Industriearbeiter, interpretiert werden. Das Schröder/Blair-Papier liefert damit die Begründung für einen neuen Fokus der SPD: Wenn der klassische Industriearbeiter in Zukunft kein genügend großes Wählerreservoir darstellt, dann kann sich eine Volkspartei nicht auf diese schwindende Klientel konzentrieren. Diese Abwendung ist daher gleichzeitig eine Hinwendung zu einer auf Flexibilität getrimmten Dienstleistungsgesellschaft. Das Wörtchen »Flexibilität« bedeutet hier nichts anderes als die geforderte Bereitschaft des Arbeitnehmers »auf sich verändernde Anforderungen [zu] reagieren« – sprich: Willst Du Dein Auskommen auch noch in Zukunft haben, dann richte Dein Leben nach dem Markt aus.

Dementsprechend folgt eine Bestandsaufnahme der klassischen Sozialdemokratie, die ebenso aus der Feder Margaret Thatchers hätte stammen können: »Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben.« Was hier festgeschrieben ist, lässt sich in aller Deutlichkeit auch so ausdrücken: Den Götzen des freien Marktes – Wettbewerbsfähigkeit und dem für Beschäftigung sorgenden Privatsektor – wird willfährig das Sozialstaatsprinzip geopfert.

Im Jahr 2000 verteidigt Giddens den dritten Weg mit der angeblichen Alternativlosigkeit dieser Reform: »Die Sozialdemokratie hatte keine andere Wahl, als sich zu reformieren, denn ihr Überleben stand auf dem Spiel«. In Anbetracht der dramatischen Wahlergebnisse, welche die europäische Sozialdemokratie seitdem einfuhr, muss man wohl sagen: Diese Reformierung war nur eine lebensverlängernde Maßnahme. In einigen Ländern Europas ist schon das passiert, wovor die SPD zurecht zittern muss: der Tod der Sozialdemokratie.

Zur letzten Ruhe

Ironischerweise ist es gerade die britische Labour-Partei, die unter ihrem neuen Vorsitzenden Jeremy Corbyn dem Mantra der Mitte entrinnen konnte, während die deutschen Sozialdemokraten eisern an ihrem Kurs festhalten – allen Wahlergebnissen zum Trotz. Als die Delegierten des SPD-Parteitages im Januar 2018 – trotz eines immensen Widerstands ihrer Jugendorganisation – für die Aufnahme der Verhandlungen für eine erneute Große Koalition stimmen, drücken sie nur das aus, was seit Anfang der 2000er ohnehin in der Partei vorherrschend ist: Wir müssen die politische Mitte besetzen, weil wir regieren müssen. Münteferings Credo »Opposition ist Mist« und Schröders Ratschlag »Wahlen werden in der Mitte gewonnen« sind mittlerweile tief in die DNA der Partei eingeschrieben.

Die Leidensfähigkeit der gegenwärtigen Sozialdemokraten ist erschreckend hoch und kann auf außenstehende oftmals wie Selbstkasteiung wirken. Die SPD scheint zu einer Volkspartei ohne Volk geworden zu sein. Eine schleichende Entwicklung, die nicht nur die Mitgliederzahlen betrifft, sondern natürlich auch in den dramatischen Wahlergebnissen offen zutage tritt. In diesem noch jungen neuen Jahrhundert musste die SPD schon zweimal die bittere Pille schlucken, mit dem schlechtesten Wahlergebnis ihrer bundesrepublikanischen Geschichte konfrontiert zu sein: Zunächst 2009 als der jetzige Bundespräsident Steinmeier die Kanzlerin herausfordert und zuletzt als der einstige Hoffnungsträger Martin Schulz 2017 gegen Angela Merkel antritt und den Schulz-Zug vor die Wand fährt. In ihrem Umgang mit diesen Wahlergebnissen demonstriert die SPD, dass ihr der Wille zu einer generellen Erneuerung entweder wegen machttaktischer Überlegungen Einzelner völlig fehlt oder dass sie ihren Mitte-Kurs noch immer für richtig hält. Als Frank-Walter Steinmeier 2009 das bis dahin schlechteste Ergebnis der SPD zu verantworten hatte, wurde er nicht etwa vom Spielfeld gejagt – wie man dies erwarten könnte. Nach einem dramatisch schlechten Ergebnis von 23% wurde der gescheiterte Spitzenkandidat zum Fraktionsvorsitzenden, danach zum Außenminister und letztlich zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland befördert. Für Personen, die innerparteilich gut genug vernetzt sind, scheint es egal zu sein, ob sie mit ihrem Scheitern die SPD nach unten ziehen. Sie können sich darauf verlassen, dass ihr parteiinternes Netzwerk hält und ihre politische Karriere weitergeht.

Genau dieser Umstand wurde letztlich Martin Schulz zum Verhängnis: Als Europapolitiker war Schulz’ Netzwerk im Berliner Betrieb nicht stark genug, um ihn nach seiner Niederlage an der Spitze zu halten. Natürlich geriet es ihm selbst auch nicht zum Besten, dass sein Zick-Zack-Kurs auf eine tiefgreifende politische wie persönliche Unentschiedenheit hindeutete. Schon im Wahlkampf sprach er sich zunächst für eine umfassende Reform der Hartz-Gesetze aus, nur um kurze Zeit später eine Koalition mit Grünen und FDP zu favorisieren – also eine Konstellation in der solche Reformen unmöglich sind. Auch nach der Wahl stolperte er immer wieder über sein »Geschwätz von gestern«, wie Adenauer es nennen würde: Zunächst die klare Festlegung auf Opposition, dann doch ein Plädoyer für die Regierungsarbeit. Danach die Weigerung als Minister in Merkels Kabinett zu arbeiten, dann der Wunsch Merkels Außenminister zu werden. Den Kräften in der SPD, die besser vernetzt waren, spielte diese Unentschiedenheit in die Karten, um Schulz loszuwerden. Er selbst sprach später, wie er DER SPIEGEL berichtete, von der Berliner »Schlangengrube«, in die er gestoßen worden war – und damit meinte er nichts anderes als seine eigene Partei. Ob es Schulz ein Trost ist, dass seine Partei schon längst selbst in der Schlangengrube sitzt - und dort nicht mehr herauskommen wird?

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