Die GroKo-Attitüde

Regierungsbildung Angela Merkel hat zwei große Koalitionen angeführt. Nun bahnt sich die dritte an. Was eine Ausnahme sein sollte, ist längst das Paradigma des deutschen Parlamentarismus

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Inzwischen fast ein Abziehbild: eine große Koalition auf der Regierungsbank. Hier im Jahr 2005
Inzwischen fast ein Abziehbild: eine große Koalition auf der Regierungsbank. Hier im Jahr 2005

Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Früher nannte man es noch nicht GroKo. Man sagte »Große Koalition aus Union und SPD«. Und der politische Betrieb wusste: Dies muss eine Ausnahme sein. Kurt-Georg Kiesinger, der Kanzler der ersten Großen Koalition in Deutschland, mahnte schon an Tag 1 der GroKo 1.0, dass dies ein Bündnis auf Zeit sein muss. Die Opposition im 1966 konstituierten Bundestag bestand aus gerade einmal 49 Abgeordneten der FDP. Kiesingers Mahnung war deshalb durchaus ernst zu nehmen. Denn er wusste, dass eine schwache Opposition Auswirkungen hat, die politisch nicht vorhersehbar sind. Die Opposition sucht sich ihren Weg - und wenn sie im Parlament nicht vertreten ist, dann formiert sie sich außerparlamentarisch. Der Brandbeschleuniger der APO, die 1968 in der Studentenbewegung gipfelte, waren des Kanzlers alte Kleider - die Vergangenheit in der NSDAP. Kiesingers Warnung scheint heutzutage nicht mehr ernstgenommen zu werden. Obwohl die politischen Akteure sich einig sind, dass das Ergebnis der AfD Kiesingers Einschätzung bestätigt, stellt die Große Koalition die wahrscheinlichste Alternative für die laufende Legislatur dar.

Für eine GroKo 4.0, wie sie sich jetzt anbahnt, ist es allerdings sehr bezeichnend, dass gerade Angela Merkel die GroKo-Kanzlerin schlechthin ist. Der Politikstil der letzten Jahre ignoriert das Wesen der Politik: den Streit und den Kampf. Unter der umarmenden Politik der Kanzlerin kam es zur Betäubung unserer Demokratie.

Eine Ausnahme wird zur Norm

Was eine Ausnahme in der Regierungsbildung sein sollte, ist längst der politische Normalfall. Es ist das Paradigma, nach welchem Angela Merkel ihre Regierungen leitet: komfortable Mehrheiten und somit viel Zeit für brenzlige Entscheidungen. Was die Kanzlerin von einer Minderheitsregierung hält, hat sie im ARD-Interview nach den geplatzten Jamaika-Sondierungen in einem Freudschen Versprecher deutlich gemacht: Statt ihrer gewohnten Haltung gemäß, nichts auschließen zu wollen und somit auf die Frage nach einer Minderheitsregierung zu antworten »Ich will nicht nie sagen«, antwortete die Kanzlerin auf die Frage von ARD-Redakteurin Tina Hassel: »Ich will Nicht und Nie sagen«. Eine Minderheitsregierung würde für die Union bedeuten, die komfortablen Mehrheiten - und damit den taktischen Vorteil der Kanzlerin - aufzugeben und stattdessen auf echte parlamentarische Arbeit zu setzen. Man stelle sich vor, die Minister und die Kanzlerin einer schwarz-grünen Minderheitsregierung müssten den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, Verhandlungen mit Oppositionellen zu führen, die womöglich zu einer stärkeren Berücksichtigung der Interessen des Deutschen Bundestages führen könnten. Für diejenigen, die in den letzten zwölf Jahren mit starkem Rückenwind das Regierungsschiff gesegelt haben, muss dies eine schreckliche Vorstellung sein.

Angela Merkel hat - und dies muss man respektieren - ihr politisches Kalkül perfektioniert. Während Kiesinger in der GroKo 1.0 noch als »wandelnder Vermittlungsausschuss« bekannt war, weil er ständig Unions- und SPD-Minister befrieden musste, hat die Kanzlerin in den letzten drei Legislaturperioden bewiesen, dass sie jeden im Sack hat, der so mutig ist, mit ihr zu regieren. Natürlich kommt ihr dabei zugute, dass die heutige SPD nicht mehr mit der SPD unter dem Duo Brandt/Schmidt vergleichbar ist. Die Sozialdemokraten haben auf ihrem politischen Kurs von sich aus längst Korrekturen in Richtung »Mitte« vorgenommen. Die Tragik besteht darin, dass die SPD nicht versteht, wie eben diese Kurskorrekturen durch die Union ausgenutzt werden. Wenn Kiesinger Recht damit hatte, dass eine Große Koalition eine Ausnahme sein muss, weil sie der politischen Kultur schadet, dann passiert in diesen Tagen Folgendes: Obwohl die Union - laut ihrem eigenen Altkanzler - die Verantwortung hat, eine Große Koalition zu vermeiden, versucht sie der SPD diese Koalition schmackhaft zu machen, indem sie an die staatspolitische Verantwortung appelliert.

Der verleugnete Streit

Ein Teil der GroKo-Attitüde ist dabei nicht nur, dass die Koalition Union/SPD zum Normalfall wird. Dies ist allenfalls das Symptom. Die Ursache liegt woanders. Die Attitüde besteht im Kern in der Auffassung, dass die demokratisch legitimierten Parteien doch bitte miteinander zum Konsens kommen müssen. Diese Attitüde, die durch den Politikstil Angela Merkels mit der Verweigerung zur Auseinandersetzung kultiviert wurde, ignoriert die Tatsache, dass der politische Betrieb von Gegnerschaft geprägt ist. Die Parteien treten an, um ihre Interpretation und Umsetzung von abstrakten Prinzpipien, wie etwa Freiheit und Gerechtigkeit, gesellschaftlich vorherrschend zu machen. Dabei betrachten sich die Parteien - wie die politische Philosophin Chantal Mouffe seit Jahrzehnten darlegt - als Kontrahenten, denen daran gelegen ist, die Position des anderen aufs Schärfste zu bekämpfen, ohne sich dabei als Feinde zu betrachten. Die Politik ist vom Widerspruch geprägt. Woher also der Anspruch, zwischen so verschiedenen Parteien wie den gescheiterten Jamaika-Koalitionären müsse es zum Konsens kommen?

Die Betäubung des politischen Diskurses, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, lässt das Bewusstsein entstehen, die Parteien einer zivilisierten, fortschrittlichen Nation müssten sich bei rein-sachlichen Themen einig werden können. Doch dieses Bewusstsein ist trügerisch. Es ignoriert die Tatsache, dass der politische Betrieb von Auseinandersetzung geprägt ist. Eine rein-sachliche Diskussion - in einem ideologiefreien Raum - gibt es nicht. Wie der Marxist Antonio Gramsci schon vor etwa einhundert Jahren festhielt: Es wird darum gerungen, die jeweils eigene Interpretation des guten Lebens vorherrschend zu machen. Was der GroKo-Attitüde letztlich zugrundeliegt, ist die Verleugnung von Streit und Kampf. Die Politik ist nicht dazu da, Kämpfe zu schlichten. Sie ist in ihrem Kern nichts anderes als Kampf. Nicht umsonst nennen wir das Spektakel vor jeder Wahl »Wahlkampf« - auch wenn der letzte Wahlkampf, ganz im Sinne der GroKo-Attitüde, alles andere als ein Kampf war.

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