Die Logik der Mitte

SPD im freien Fall In den vergangenen zwanzig Jahren war die SPD länger an der Regierung beteiligt als die CDU. Wo liegt also ihr Problem, wenn sie so erfolgreich ist?

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Pointiert und durchaus polemisch lässt sich feststellen: Zum Glück wurde Schulz nicht Kanzler - ein solches Chaos in einer einzigen Person hätte das Land nicht vertragen
Pointiert und durchaus polemisch lässt sich feststellen: Zum Glück wurde Schulz nicht Kanzler - ein solches Chaos in einer einzigen Person hätte das Land nicht vertragen

Foto: Sascha Schuermann/AFP/Getty Images

Man muss sich fragen, warum sich die SPD immer wieder gerade mit dem Appell an die Verantwortung für den Staat in die Große Koalition locken lässt. Ist es nicht umgekehrt? Wenn der gegenwärtige Aufstieg des Rechtsextremismus in Deutschland darauf zurückzuführen ist, dass die beiden Volksparteien für den Wähler ununterscheidbar geworden sind, muss dann nicht aus Verantwortung für den Staat die Große Koalition vermieden werden? Dieser Schritt erfordert allerdings ein grundsätzliches Umdenken. Einmal abgesehen von den begehrten Ministerämtern und den Posten als Staatssekretäre, die mit einer Regierungsbeteiligung verbunden sind, müsste sich die Partei von zwei Mantras befreien, die sie von ihren Altvorderen geerbt hat: Franz Münteferings Wertung »Opposition ist Mist« und Gerhard Schröders tödlichen Ratschlag »Wahlen werden in der Mitte gewonnen«.

Opposition ist Mist - oder?

Die SPD rechtfertigte jede ihrer vergangenen und gegenwärtigen Beteiligungen an der Großen Koalition damit, dass es gut sei, mitzuregieren. Die Logik ist verführerisch: Es bestehe doch das Interesse daran, sozialdemokratische Inhalte in die Tat umzusetzen, da dies das Land aus SPD-Sicht voranbringt. Wie anders könne man dieses Ziel erreichen als in der Regierung – sei es auch als Juniorpartner einer von Angela Merkel geführten CDU? In diesem Sinne ist die Rolle der Oppositionspartei, wie Müntefering sagte, tatsächlich Mist.

Was in dieser Logik keine Berücksichtigung findet, ist die Rolle des Juniorpartners. Die Erfolge einer Regierung gehen in der öffentlichen Wahrnehmung zugunsten der Regierungschefin, da sie es ist, die durch ihre Medienpräsenz die Deutungshoheit beanspruchen kann. (Und an dieser Stelle lässt sich der Autor zu einer persönlichen Anekdote verführen: Als ich im Januar 2015 mit einem Taxi fuhr, erzählte mir der Fahrer sehr begeistert, dass er in diesem Monat das erste Mal mit dem Mindestlohn bezahlt würde. Und er fügte hinzu: »Da hat die Merkel endlich mal was richtig gemacht«. Es blieb mir nichts anderes übrig als die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen.) Münteferings Wertung, dass Opposition Mist sei, ignoriert nicht nur den Druck, den eine große Oppositionspartei leisten kann, um die zivilgesellschaftliche Hegemonie infrage zu stellen. Sie wertet auch all die Arbeit herab, die in der Opposition - von kleinen und großen Parteien - geleistet wird, um unseren demokratischen Betrieb zu stabilisieren. Ohne die ständigen Anfragen der Oppositionsparteien wäre unser Parlament in demokratischer Hinsicht wertlos. Es wäre ein Instrument der Selbstbestätigung.

Das Mantra der Mitte

Das zweite Diktum, Wahlen würden in der Mitte gewonnen, ist das eigentliche Übel, das sich nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern parteiübergreifend etablieren konnte. Es wirkt sogar bis in Teile der AfD und der LINKEN, obwohl diese Parteien ihrem Credo nach das genaue Gegenteil der Mitte sein wollen. Jedoch sind die Gründe bei AfD und LINKE für eine teilweise Fixierung auf die Mitte völlig entgegengesetzt – und es sei klargestellt: Bei diesen beiden Parteien sind es nur mehr oder weniger kleine Teile, die dem Mantra der Mitte verfallen sind.

Die Grünen und die FDP haben die Botschaft der beiden großen Parteien verinnerlicht. In gegenseitiger Konkurrenz buhlen sie darum, in der politischen Mitte mitspielen zu dürfen. Die Grünen sind der FDP dabei einen Schritt voraus. Sie haben es geschafft, ihr Profil - das beim erstmaligen Einzug in den Bundestag 1983 noch völlig anders aussah - so umzugestalten, dass es ihnen nun egal sein kann, mit wem sie regieren. Wenn in den Sondierungsgesprächen einer Jamaika-Koalition nicht die CSU, sondern die FDP die Verhandlungen beendet, dann muss man sagen: Die Grünen haben die Mitte perfektioniert. Sie sind anschlussfähig- und zwar in jede Richtung. Was sich schon lange in der Partei als schleichender Prozess vollzog, manifestierten die Grünen auf ihrem Parteitag im Januar 2018 als sie nicht nur den Flügel-Proporz über Bord warfen und erstmals zwei Vertreter des Realo-Flügels zu ihren Vorsitzenden wählten, Annalena Baerbock und Robert Habeck, sondern auch noch für den Kandidaten Habeck ihre Satzung änderten, sodass dieser für mehrere Monate gleichzeitig Parteivorsitzender sowie Umweltminister in Schleswig-Holstein bleiben konnte.

Die FDP macht im Tanz um die politische Mitte die schlechteste Figur. Zwar ist sie in soziokultureller Hinsicht weder autoritär noch libertär, aber ihr marktradikaler Kurs disqualifiziert sie als Partei der Mitte - also als Partei, die einen Ausgleich finden will zwischen der Belohnung von Gewinnern und der Entschädigung von Verlierern der Marktwirtschaft. Nichtsdestortrotz inszeniert sich die Partei als Repräsentation der Mitte: Auf dem traditionellen Dreikönigstreffen der FDP im Januar 2018 verkündete der Parteivorsitzende Christian Lindner, die Große Koalition im 19. Deutschen Bundestag werde eine andere werden als diejenige in der vorangegangenen Legislaturperiode. Nicht etwa, weil sich die Programme der beiden Regierungsparteien geändert hätten, sondern weil diese Große Koalition nun nicht mehr nur von einer linken Opposition angegriffen wird. Mit seiner FDP sitze nun die bürgerliche Mitte als oppositionelle Kraft im Parlament. Dies, so Lindner, verändere das politische Spiel grundlegend. Recht hat er damit, dass die neuen Verhältnisse im Bundestag das Spiel der Mehrheiten verändern. Die Große Koalition – wenn man sie denn noch so nennen kann – kommt auf gerade einmal 53% der Sitze. Was dabei nicht erwähnt wird, ist, dass ihr Programm ausnahmslosauf die Sanktionierung der Verlierer unseres Systems ausgelegt ist. Ihre Marktradikalität macht die FDP nicht zu einer Partei der Mitte, sondern zu einer rechten Partei. Der Drang in die Mitte lässt sich nicht nur in programmatischen Punkten beobachten, sondern schlägt sich auch in parlamentarischen Banalitäten Bahn. So bemühte sich die FDP vor der Konstituierung des jetzigen Bundestages in der Mitte des Parlaments platziert zu werden. Damit scheiterten die Liberalen. Zusammen mit der AfD sitzt die FDP-Fraktion auf den rechten Bänken des Hohen Hauses.

Die SPD zementierte ihren Mitte-Kurs mit dem sogenannten Schröder/Blair-Papier von 1999, in dem ein dritter Weg zwischen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der Sozialdemokratie proklamiert wurde. Der Treppenwitz der deutschen und britischen Sozialdemokratie ist: Dieser dritte Weg führt geradewegs in den ersten Weg des Neoliberalismus - es gibt keinen dritten Weg. Klar wurde dies wenig später mit den deutschen Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010. Als die Delegierten des SPD-Parteitages im Januar 2018 – trotz eines immensen Widerstands ihrer Jugendorganisation – für die Aufnahme der Verhandlungen für eine erneute Große Koalition stimmen, haben sie nur das ausgedrückt, was seit Anfang der 2000er ohnehin in der Partei vorherrschend ist: Wir müssen in die politische Mitte, weil wir regieren müssen. Münteferings Credo »Opposition ist Mist« und Schröders Ratschlag »Wahlen werden in der Mitte gewonnen« scheinen in die DNA der Partei eingeschrieben zu sein.

Wenn in der SPD Unmut aufkommt, dann verweisen ihre Altvorderen immer wieder auf zwei Dinge: auf die stolze Geschichte der Sozialdemokratie und darauf, dass die SPD die mitgliederstärkste Partei der Republik ist. Ja, die SPD ist die Partei eines Willy Brandt. aber sie ist eben auch die Partei eines Gerhard Schröder. Und so korrekt es ist, dass sie die größten Mitgliederzahlen verbuchen kann, so verlogen ist es allerdings auch. Was dabei verschwiegen wird, ist der dramatische Rückgang an Mitgliederzahlen, den die Partei (sowie auch andere Parteien) in den letzten Jahrzehnten hinnehmen musste. Waren es in den 1990er Jahren noch eine knappe Millionen Deutsche mit rotem Parteibuch in der Tasche, sind es heute nur noch weniger als halb so viele.

Die SPD ist zu einer Volkspartei ohne Volk geworden. Eine schleichende Entwicklung, die nicht nur die Mitgliederzahlen betrifft, sondern natürlich auch in den dramatischen Wahlergebnissen offen zutage tritt. In diesem noch jungen neuen Jahrhundert musste die SPD schon zweimal die bittere Pille schlucken, mit dem schlechtesten Wahlergebnis ihrer bundesrepublikanischen Geschichte konfrontiert zu sein: Zunächst 2009 als der jetzige Bundespräsident Steinmeier die Kanzlerin herausfordert und zuletzt als der einstige Hoffnungsträger Martin Schulz 2017 gegen Angela Merkel antritt. Es zeigt sich schon in diesen Personalien, dass die SPD ein strukturelles Problem hat: Steinmeier, der 2009 das bis dato schlechteste Ergebnis für die Partei verantworten musste, wurde sogleich zum Fraktionsvorsitzenden ernannt, danach zum Außenminister befördert und ist nun Präsident der Bundesrepublik. Der beste Weg, in der SPD aufzusteigen, scheint das Verlieren zu sein. Sobald die mühsame Ochsentour bis zu den Fleischtöpfen der Macht gemeistert ist, sorgt die parteiinterne Struktur für die garantierte Karriere. Auch das gegenwärtige Personalkarusell offenbart dasselbe: Mit der Kandidatur von Martin Schulz hat die SPD ihr voriges Wahlergbnis um satte 5% unterboten. Und obwohl der Vorsitzende - wie die Medien nicht müde werden zu erinnern - ein Ministeramt in einer Großen Koalition ausgeschlossen hat, sicherte er sich sogleich den Posten des Außenministers.

Wäre dieser Plan aufgegangen, hätte Schulz die Kanzlerschaft bei der nächsten Bundestagswahl in der Tasche gehabt. Der Außenminister ist fast schon traditionell der populärste Politiker bei der deutschen Bevölkerung. Sigmar Gabriel schaffte es in diesem Amt sogar innerhalb eines Jahres von einem der unbeliebtesten zum beliebtesten Politiker. Wenige Jahre in der Regierung Merkel 4.0 hätten Schulz in der Bevölkerung so viel Bonus eingebracht, dass einer Kanzlerschaft nach der Ära Merkel nichts mehr im Wege stünde. Doch der Plan ging nicht auf. Zu groß der Widerstand aus den eigenen Reihen, so dass der fast-Außenminister erklärte, er würde auf ein Ministeramt verzichten, um die Bildung der Koalition nicht zu gefährden. Pointiert und durchaus polemisch lässt sich feststellen: Zum Glück wurde Schulz nicht Kanzler - ein solches Chaos in einer einzigen Person hätte das Land nicht vertragen.

Es sind keine äußeren Umstände - keine anderen Parteien und auch keine höhere Gewalt - welche die Partei in den Sturzflug gebracht haben. Die SPD sorgt selbst dafür, dass die Kanzlerschaft zukünftig nicht mehr zwischen Sozialdemokraten und Union ausgemacht wird. Es werden andere Parteien darum streiten, den Platz der verschwindenden SPD einzunehmen. Die Frage ist nur: Wird dies eine weitere Partei rechts der Mitte sein oder schafft es die politische Linke eine neue Plattform für soziale Inhalte bereitzustellen?

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