Keine Angst vor der AfD

Demokratie Das Argument für eine Große Koalition ist, dass eine Minderheitsregierung der AfD zu viel Gewicht im Bundestag gebe. Doch dies ist nur eine Ausflucht der Regierenden

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Bei Minderheitsregierung müsste man sich vor der AfD-Fraktion nicht fürchten
Bei Minderheitsregierung müsste man sich vor der AfD-Fraktion nicht fürchten

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Die Minderheitsregierung wird als Damoklesschwert inszeniert, das derzeit über der deutschen Demokratie schwebt. Sollte dieses Schwert herunterfallen, was droht dann? Endlose und ergebnislose Debatten im Bundestag? Innenpolitische Instabilität in außenpolitisch schwierigen Zeiten? Gar eine Wiederauflage der Weimarer Republik? Oder wird das Land - Merkel bewahre! - auf eine Stufe herabgesetzt mit einem der Lieblingsthemen deutscher Boulevard-Presse: südeuropäische Verhältnisse?

Es sind Schreckensszenarien, mit denen die Medienlandschaft die Republik konfrontiert. Doch ein Argument gegen die Minderheitsregierung scheint alle anderen zu trumpfen: Sollte sich eine Regierung im Deutschen Bundestag für jede Abstimmung immer wieder neue Mehrheiten suchen müssen, dann käme der AfD als drittstärkster Kraft im Parlament eine zu große Rolle zu. Schließlich müssten die Parlamentarier immer wieder auf die AfD zugehen und Kompromisse suchen, um die Regierung im Amt zu halten. Es war zu allererst die SPD, die ihre Entscheidung für die Opposition damit begründete, der AfD nicht die Rolle der Oppositionsführerin überlassen zu wollen. Welch ein staatstragender Dienst an der Demokratie! Doch dieses Argument ist falsch. Und die Einstellung, es müsse nun zu einer stabilen Mehrheit kommen, wird der AfD letztlich sogar mehr nutzen als schaden.

Schaut auf den Bundesrat!

Dass die Angst vor der AfD unbegründet ist, erklärt sich dadurch, dass eine Minderheitsregierung nicht nur nicht abwegig ist, sondern dass wir sie faktisch schon immer haben. Wie der Politologe Werner Patzelt klarstellt, ist eine Minderheitsregierung keine Gefahr, sondern nur eine Sache der Schwierigkeit für die herrschende politische Klasse. Weiter sagt er völlig zurecht, dass unser parlamentarisches System schon immer eine de facto-Minderheitsregierung hat, da die entscheidenden Gesetze vor ihrer Verabschiedung durch den Bundesrat gehen müssen. Die Mehrheiten, die im Bundestag bestehen, spielen dort allerhöchstens eine untergeordnete Rolle. Das Ringen um Mehrheiten ist im Bundesrat der politische Alltag - nur ist dies nicht im Fokus der Öffentlichkeit, weil diese für unsere Demokratie so wichtige Institution eben nicht das Hohe Haus ist. Der Souverän, also die Wählerschaft, hat die Mehrheitsverhältnisse auf der Landesebene, die konstitutiv für den Bundesrat sind, seit jeher anders gestaltet als auf Bundesebene. Regierungen aller Couleur müssen dort Kompromisse erringen - seien es CSUler oder LINKE. Und dieser Form der Auseinandersetzung kommt der Bundesrat seit fast 70 Jahren sehr erfolgreich nach - also alles andere als Instabilität.

Wegen 42 läppigen Stimmen

Versetzt man sich in die Rolle eines Unionspolitikers, dann muss man sagen, dass für die Mehrheitsbildung im Bundestag zwei Fraktionen nicht in Betracht kommen: AfD und LINKE - auch wenn die Mehrheitsbildung mit der AfD nicht absolut ausgeschlossen ist. Wie die Lage in vier oder acht Jahren aussieht, ist offen. Sofern eine schwarz-grüne Minderheitsregierung also durch die Opposition - allen voran der SPD - toleriert wird, dann müsste sie sich für ihre Vorhaben Mehrheiten bei der SPD und FDP suchen. Die Rechnung ist einfach: In einem Bundestag, der aus 709 Abgeordneten besteht, ginge es bei einer Regierung aus 313 Abgeordneten (CDU und Grüne) gerade einmal um 42 zusätzliche Stimmen, die es zu erkämpfen gilt. Für die Union, die seit ihrem Bestehen die »Politik des Hinterzimmers« wahrlich perfektioniert hat, dürfte dies keine allzu große Herausforderung darstellen.

Dass die SPD - als größte Oppositionspartei - mit der Union und den Grünen nur allzu schnell zu Kompromissen kommen kann, hat sie sicherlich mehr als einmal bewiesen. Und auch wenn die FDP unter Christian Lindner die Sondierungsgespräche mit der Union und den Grünen platzen ließ, so muss man sagen, dass eine Oppositions-FDP durchaus zu Kompromissen bereit wäre. Welchen Grund sollten die Liberalen haben, ihre Forderungen zum Ende des Solidaritätszuschlags nicht im Austausch gegen Stimmen für einen gemäßigten Kohle-Ausstieg - wie ihn die Grünen fordern - durchzubringen? Die Marke Christian Lindner würde sich einen solchen Deal sicher als Erfolg seiner Opposition auf die Fahnen schreiben - auch wenn der Soli-Deal schon in den Jamaika-Verhandlungen stand. Das gegenwärtige Interesse der FDP ist nicht das Regieren, sondern das Opponieren - und wenn dann noch eine Kernforderung aus der Oppositionsrolle heraus umgesetzt werden kann, lässt sich nicht mehr sagen, dies sei ein Vertrauensbruch gegenüber den eigenen Wählern. Im Gegenteil: Es ist ein Zeichen der oppositionellen Stärke.

Die Entscheidungen der SPD- und FDP-Politiker in den vergangenen Jahren zeigen, dass eine Minderheitsregierung kein destabilisierender Faktor ist, der sich immer wieder auf die Stimmen der AfD verlassen müsste. Im Gegenteil: Die Ausrichtung der deutschen Politik - innen wie außen - ist mit diesen Parteien ohnehin schon klar. Ob der Soli dafür 2021 oder erst 2023 abgeschafft wird, bedeutet nicht die Dämmerung des Parlamentarismus.

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