Ein Hauch von Eugenik

Coronakrise Wolfgang Schäuble möchte dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen. Die Würde des Menschen sei unantastbar, unabhängig davon ob der Mensch lebe oder nicht.

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Wolfgang Schäubles Angst ist begrenzt: „Wir sterben alle.“
Wolfgang Schäubles Angst ist begrenzt: „Wir sterben alle.“

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Vor einigen Tagen sorgte Dan Patrick, Vizegouverneur des Staates Texas, für Aufregung, als er in einem Interview mit Fox News erklärte, dass es wichtigere Dinge gäbe als zu leben. Das Land müsse geschützt werden für die Generation seiner Kinder und Enkelkinder. Dafür sei es nötig, die Wirtschaft wieder hochzufahren, auch wenn dabei die Leben älterer und vorerkrankter Menschen gefährdet würden.

Eine ähnliche Ansicht hat wenige Tage später auch Bundestagspräsident Wolfang Schäuble in einem Interview mit dem Tagesspiegel geäußert. Es sei falsch, dem Schutz des Lebens alles andere unterzuordnen. Der einzige absolute Wert in unserem Grundgesetz sei die Würde des Menschen und die schließe nicht aus, dass Menschen sterben.

Das Leben ist nur eine Variable

Er begründet diese Haltung mit dem altbekannten Raucher*innenargument: Wir müssen ja sowieso irgendwann sterben. „Sehen Sie“, sagt er. „Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle.“

Diese Aussage ist nicht nur kaltherzig, sondern auch unverschämt. In ihr schwingt die Forderung mit, dass Menschen, die zur Risikogruppe gehören, sich nicht so haben sollen. Alle Alten, die Angst um ihre paar letzten Lebensjahre haben, erscheinen im Kontrast zu unserem heroischen Ex-Finanzminister wie irrationale Egoist*innen. Daraus, dass er keine Angst davor hat, vom Coronavirus dahingerafft zu werden, schließt er, dass alle anderen das auch nicht haben und Lockerungsmaßnahmen im Zweifelsfall nicht im Wege stehen sollten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Schwache nicht mehr als zufällig stärker gefährdet betrachtet werden und man sie stattdessen als Last betrachtet, die alle anderen dazu zwingt, sich in ihren „Grundrechten“ einzuschränken.

Auch passt diese Art, vom Leben zu sprechen gut in die etablierte politische Rhetorik. Wir hören nur von Zahlen, die – zum Glück – gering sind und davon, dass das Virus – zum Glück – nur Menschen aus Risikogruppen betrifft. Wie tragisch so ein unnötiger Tod durch das Coronavirus ist, liest und hört man selten. Es wird von Menschenleben wie von einem Auto gesprochen. Geht eh irgendwann kaputt. Ist ja nicht meins.

Die Würde des Menschen ist antastbar

Menschen hätten, wenn überhaupt, ein Recht auf Würde, aber keines auf Leben, sagt Schäuble. Er trennt tatsächlich den Begriff der Würde vom Leben ab. Die Würde sei unantastbar und man könne auch in Würde an Corona sterben.

Wäre die Würde des Menschen tatsächlich unantastbar, bräuchten wir kein Grundgesetz, das diese Würde schützt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ soll nicht bedeuten, dass die Würde des Menschen einfach so da ist, egal, was passiert. Es bedeutet viel mehr, dass sie keinesfalls angetastet werden soll. Genau das will Wolfgang Schäuble aber in Kauf nehmen.

Sein Begriff von Würde klingt eher nach einer banalen Art von Märtyrertod: Einige Menschen mit mehr Pech als die anderen sollen für eine Idee sterben, die höher gestellt ist als das Leben. Die Idee, der höhere Zweck, für den gestorben werden soll, sind die „Grundrechte“ der anderen.

Sogenannte Grundrechte

Der Schutz des Lebens dürfe nicht absolut gesetzt werden, denn „Grundrechte beschränken sich gegenseitig“, sagt Schäuble. Welche Grundrechte angegriffen werden, lässt er allerdings offen. Pressefreiheit, Recht auf Meinungsäußerung, Recht auf Eigentum, Briefgeheimnis, Unverletzlichkeit der Wohnung und einige weitere werden jedenfalls nicht eingeschränkt. Eingeschränkt werden die Versammlungsfreiheit und die Freiheit zur Religionsausübung. Alle anderen Grundrechte bleiben unangetastet.

Wenn Schäuble vom Weg zurück in die Normalität spricht, geht es ihm aber nicht etwa um die Versammlungsfreiheit. Große Sorgen bereitet ihm laut eigener Auskunft die Wirtschaft. Das heißt, wenn er von Grundrechten spricht, meint er die Art von Arbeit und Konsum, die aktuell nicht gebraucht wird. Er meint keine Rechte, sondern Privilegien. Was uns nämlich momentan fehlt, sind nicht unsere Grundrechte, sondern es ist die Möglichkeit, unbegrenzt zu konsumieren, in den Urlaub zu fahren oder Kaffee trinken zu gehen bzw. die Möglichkeit einiger weniger, ihre Angestellten auszubeuten. Diese Privilegien dürfen laut seiner Aussage nicht hinter dem Schutz des Lebens zurückstehen. Ironischerweise fordert er damit die Einschränkung des Grundgesetzes Artikel zwei, wo es heißt: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

Dass Grundrechte sich gegenseitig beschränken ist richtig. Allerdings sind die genannten Dinge keine Grundrechte. Vor allem deshalb nicht, weil ihre Ausübung die Gefährdung und unter Umständen den Tod anderer Menschen nach sich zieht. Füge ich mit der Ausübung eines Rechts anderen Menschen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unnötige körperliche Schäden zu, muss ich auf dieses „Recht“ verzichten. Grundrechte gelten für alle und können deshalb schon gar nicht die Ungleichbehandlung von Menschen aus einer bestimmten Gruppe einschließen. Vor allem aber liefern sie keine Begründung dafür, alte oder vorerkrankte Menschen sterben zu lassen. Das ist keine Wahrung der Grundrechte, sondern Euthanasie. Das Leben ist die notwendige Bedingung für alle Grundrechte, da nur ein lebendiger Mensch seine Grundrechte ausüben kann. Der Wirtschaft oder sonstigen Ideen kommen keine Rechte zu. Dafür aber jedem lebendigen Menschen, auch wenn er zu einer Risikogruppe gehört.

Selbstverständlich müssen wir sterben. Aber es ist ein Unterschied, ob jemand in zehn Jahren unvermeidbar stirbt, oder ob er*sie jetzt dem Coronavirus erliegt, weil eine Regierung den Aufwand scheut, den es bräuchte, um ihren*seinen Tod zu verhindern. Der Schutz des Lebens muss sehr wohl absolut gesetzt werden, er muss jeder anderen Idee übergeordnet sein. Jede Ideologie, die das nicht tut, eignet sich zur Legitimierung menschenverachtender Handlungen im Namen der höherstehenden Idee. Wenige Dinge sind entwürdigender als zu sterben, weil das eigene Leben nicht für wertvoll genug befunden wird.

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