Ich und meine Teetasse

Achtsamkeit Glücklicher, gelassener, produktiver. Die Achtsamkeitsbewegung verspricht, uns zu besseren Menschen zu machen. Neutrales Allheilmittel oder konformistische Ideologie?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

„Man achtet auf seinen Atem oder die Natur, isst achtsam oder trinkt achtsam eine Tasse Tee. Nicht beachtet werden Polizeigewalt, Massentierhaltung, Flüchtlingslager oder Ausbeutung“
„Man achtet auf seinen Atem oder die Natur, isst achtsam oder trinkt achtsam eine Tasse Tee. Nicht beachtet werden Polizeigewalt, Massentierhaltung, Flüchtlingslager oder Ausbeutung“

Foto: Phil Walter/Getty Images

Der Begriff Achtsamkeit (bzw. Mindfulness) hat in den letzten Jahren einen extremen Aufschwung erlebt. Ob in Form von Ratgeberbüchern, irgendeiner Art von Yoga oder (angeblich) buddhistischer Meditation, Achtsamkeit scheint überall Einzug gehalten zu haben: in Schulen, Universitäten, in der Psychotherapie und nicht zuletzt in den Büros von RWE und Google. Die Idee hinter den verschiedenen Achtsamkeitspraktiken ist relativ simpel: Durch Meditation oder Ähnliches übt man, im Hier und Jetzt zu sein, sich auf Tätigkeiten, Menschen und Gegenstände wirklich zu konzentrieren und vorschnelle Urteile und automatische Handlungen zu vermeiden. Das Ganze soll glücklicher machen und Stress abbauen, was es bei vielen Praktizierenden auch tut.

Doch nicht nur das: Methoden wie die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (mindfulness based stress reduction, kurz: MBSR) nach Jon Kabat-Zinn oder Zen-Meditation, wie sie z. B. durch Thích Nhất Hạnh im Westen bekannt wurde, sollen auch dabei helfen, die Welt empathischer und friedlicher zu machen. Und das auf ideologisch ganz neutrale Weise: Wenn in Unternehmen meditiert wird, um den Profit zu steigern, tut das der eigentlichen Idee von Achtsamkeit keinen Abbruch, da sie den Blick der Meditierenden weitet, sagt Thích Nhất Hạnh. Jon Kabat-Zinn geht sogar so weit, zu behaupten, Achtsamkeit sei vielleicht die einzige Möglichkeit, uns und unseren Planeten durch die nächsten Jahrhunderte zu retten.

Die Krisen unserer Zeit sollen also nicht durch komplizierte, langwierige (und langweilige) politische und soziale Änderungen bewältigt, sondern auf individueller Ebene angegangen werden. Wenn die Einzelnen entspannter, aufmerksamer und glücklicher sind, wird sich auch die Gesellschaft ändern, so ungefähr lautet die Hoffnung (oder das Versprechen). Kann das funktionieren? Und wenn ja, wie?

Warum macht Achtsamkeit (oft) glücklich und entspannt?

Auch wenn die Wirkungen von Achtsamkeitspraktiken gerne übertrieben werden und durchaus auch unangenehm sein können, fühlt sich ein Großteil der Menschen nach dem Meditieren auf irgendeine Weise besser als vorher. Man ist konzentrierter, entspannter, mehr im Moment oder macht sich weniger Sorgen. Das ist auch recht einleuchtend: Sich einmal für zwanzig Minuten der Reizüberflutung durch Social Media, Nachrichten, Messenger zu entziehen, nicht an die eigenen Sorgen und die Probleme anderer Leute zu denken und einfach mal zu sein, kann sich so schlecht nicht anfühlen. Aber warum macht es manche Leute nicht nur entspannter, sondern auf so eine schwebende Weise allumfassend glücklich?

Wirklich auf diese mit allem irgendwie einverstandene Weise zufrieden kann das Ganze nur machen, weil man sich dabei ausschließlich auf harmlose Dinge konzentriert. Man achtet auf seinen Atem oder die Natur, isst achtsam oder trinkt achtsam eine Tasse Tee. Nicht beachtet werden Polizeigewalt, Massentierhaltung, Flüchtlingslager oder Ausbeutung. Das ist an sich auch nichts Verkehrtes, man muss nicht rund um die Uhr an das Schlimmste denken und es wird nicht besser, wenn wir uns kaputt machen. Allerdings wird die Positivität, die uns die Harmlosigkeiten erlauben, in der Achtsamkeitsbewegung häufig zur Norm gemacht.

Alles ist gut

Diese Wertung wird meistens nicht allzu explizit gemacht, schwingt aber bei den im Westen etablierten Achtsamkeitskonzepten mindestens im Hintergrund mit. Das geschieht auf verschiedene Weisen. Entweder man konzentriert sich, wie gesagt, auf harmlose oder angenehme Dinge. In der Regel soll man abweichende Gedanken und Emotionen zwar wahrnehmen, sich aber von ihnen distanzieren, sie nicht festhalten, sondern weiterziehen lassen „wie Wolken am Himmel.“ Dieses Weiterziehenlassen wird vor allem betont, wenn es um Wut oder Trauer geht. Diese Gefühle sind zwar erlaubt, aber sie sollen um Himmels Willen nicht ernst genommen, sondern nur bemerkt und direkt losgelassen werden, denn sie schwächen das Wohlbefinden und die Produktivität.

Wut und Trauer sind – und spätestens hier bemerkt man, dass es mit der Neutralität nicht weit her ist – auch gar nicht nötig, denn alles passiert genauso, wie es passieren soll. Oder zumindest täte es uns gut, das so zu sehen. Alles ist Schicksal, alles ist gut, und wenn es dir nicht gut vorkommt, kann es nur daran liegen, dass du schlecht damit umgehst. Achtsamkeit wird hier zu einem Mittel, alles zu ertragen, das bekannte „Opium des Volkes.“

Die angebliche Neutralität wirkt hier – wie so oft, wenn von Neutralität die Rede ist – rein affirmativ, sie legitimiert alles, was ist. Dinge, die uns als offensichtlich negativ erscheinen, bekommen ein Konzept übergestülpt und schon sind sie wieder positiv bzw. ist es einfach an uns, etwas Positives daraus zu machen. Begegnen wir unsozialen, bösartigen Menschen, erinnern wir uns daran, dass sie ja, genau wie wir, nur glücklich sein wollen und schon fühlt sich die Begegnung besser an. Alles, was Schmerz verursacht, lässt man ziehen, weil es eine „Illusion“ ist oder man sieht es als Herausforderung, als eine Möglichkeit zum Wachstum, die das Schicksal uns gibt. Entsprechende Ratgeberautor*innen sind entweder so dreist, diese Forderungen tatsächlich auf alles (inkl. Rassismus, Sexismus, Krieg…) zu beziehen, oder aber ihre Beispiele drehen sich fast ausschließlich um die Problemchen, die im Privaten (nämlich der intakten traditionellen Kernfamilie) oder auf der Arbeit (die natürlich immer in einem Büro stattfindet) auftauchen. Auch wenn die Ideen von Karma und Wiedergeburt (alles Schreckliche ist nur eine notwendige Wirkung, die du in einem vorherigen Leben selbst verursacht hast) meistens nur in dezidiert esoterischen Kreisen benannt werden, finden sich ihre Folgen in der praktischen Anwendung der Achtsamkeitskonzepte nach wie vor wieder. Alles ist gut, alles ist sinnvoll, wenn man es nur richtig nimmt, oder wenn man es von ganz oben hören will: „Es gibt keinen Weg zum Glück. Glücklichsein ist der Weg.“ (Buddha)

Alles ist Schicksal

In diesem Zusammenhang werden oft Dinge gesagt, die auf den ersten Blick durchaus richtig, auf den zweiten Blick aber einigermaßen furchtbar sind. Es ist wieder Buddha, der hier gerne zitiert wird: „Wenn du ein Problem hast, versuche es zu lösen. Kannst du es nicht lösen, dann mache kein Problem daraus.“ Ganz einfach, entweder du kannst es ändern und musst dir keine Sorgen machen, weil es ja änderbar ist, oder es ist Schicksal und was helfen dann die Sorgen? Wie so oft im Zusammenhang mit Ratschlägen oder spirituellen Dogmen (oder dem einen, das zum anderen geworden ist), wird die Welt auf fast parodistische Weise vereinfacht. Und weil solcherlei Aussagen so allgemeingültig wirken, verwechselt man sie mit Weisheit.

Im genannten Zitat ist alles schwarz und weiß (bzw. alles weiß) und kein Fleckchen grau stört. Dass es schon ein riesiges Problem sein kann, herauszufinden, ob man etwas ändern kann, wird nicht angesprochen. Dass man nicht jedes Problem lösen kann, dass es aber dennoch ein Problem bleibt, wird nicht angesprochen. Eine Schwarze Person, die jeden Tag Angst hat, von der Polizei umgebracht zu werden, hat unbestreitbar ein Problem, das kein unveränderliches Schicksal ist, das sie in ihrem Leben aber vermutlich dennoch nicht wird lösen können. Was dieses Zitat sagt, ist nichts weiter als: Ändere etwas oder halt den Mund.

Dass es keinen Sinn ergibt, gegen das, was wirklich Schicksal ist, anzukämpfen, ist natürlich richtig und wer sich ständig über das Wetter aufregt, mag hieraus vielleicht einen Nutzen ziehen. Allerdings wird hier erstens suggeriert, dass wir nur leiden, weil wir gegen das Schicksal ankämpfen und zweitens besteht ein großer Teil der Achtsamkeitspraxis daraus, dem Schicksal einen Haufen Dinge zuzurechnen, die kein Schicksal sind. Politische Entscheidungen, die Fehltritte unserer Mitmenschen und die anstehende Klimakatastrophe sind kein Schicksal, sie sind beeinflussbar und sie tiefenentspannt im Lotussitz hinzunehmen mag für einige angenehm sein, aber notwendig sind sie nicht und sie erzeugen auch nicht nur deshalb Leid, weil wir sie falsch wahrnehmen.

Im Grunde wird mit dieser (akzeptierenden, gelassenen) Art von Achtsamkeit Unterwerfung propagiert. Wo man glaubte, sich einem naturgegebenen Schicksal zu unterwerfen, unterwarf man sich einst den Dogmen der herrschenden Religion. Heute unterwirft man sich dem Status Quo, dem Selbstoptimierungswahn und den „Herausforderungen“, vor die der Kapitalismus uns stellt.

Die Sache mit dem Hier und Jetzt

Ein weiterer großer Punkt im Achtsamkeitsbetrieb ist die Betonung des „Hier und Jetzt.“ Man soll ganz in diesem Hier und Jetzt ankommen, ganz anwesend sein, nicht an etwas anderes denken, nicht an früher und nicht in die Zukunft. Das ergibt bei vielen Tätigkeiten an sich durchaus Sinn, man bezeichnet es (wenn es klappt) als Flow-Erlebnis oder (falls man altmodisch ist) als Aufgehen in einer Tätigkeit.

Im Achtsamkeitsbetrieb wird das Aufgehen im Hier und Jetzt allerdings auch zu einer Art Norm erhoben. Wer sich aus dem Flow durch lästige Selbstreflexion oder Nachdenkerei herausreißt, ist nicht achtsam. Wer aversive Gefühle hat (und sie nicht zugunsten des Hier und Jetzt ziehen lässt) ist nicht achtsam. Wer wütend ist, so die Ansicht, hängt zu sehr in der Vergangenheit, wer Angst hat, denkt zu weit in die Zukunft. Auch hier wird wieder alle Schuld dem Individuum gegeben: Es gibt keine äußeren Anlässe für Wut und Angst, sie sind nur da, weil du etwas falsch machst.

Auch hier wird wieder von einer Neutralität ausgegangen, die es so nicht gibt. Es wird so getan, als gäbe es einen (Wach-)Zustand, in dem wir frei von Gefühlen sind. Als könnte man die Gefühle/Emotionen/Stimmungen einfach ziehen lassen und wäre dann neutral gestimmt. Aber auch hier ist die Neutralität nichts anderes als Zustimmung oder Gleichgültigkeit, das Gefühl, alles sei in Ordnung. Zudem basiert diese „neutrale“ Stimmung auch nicht auf einer neutralen Anschauung der Dinge (zu der man per Meditation angeblich kommen soll), sondern auf einer entspannten/zufriedenen bzw. fatalistischen, die zwar gemütlicher ist, aber nicht richtiger.

Natürlich kann man sich dazu bringen, so zu fühlen und es ist anscheinend für sehr viele Menschen recht angenehm. Einige von ihnen blicken gerne mit einer speziellen Art esoterischer/spiritueller Arroganz auf die unter Wut, Angst, Schuld Leidenden herab und können gar nicht verstehen, warum diese ihre „negativen“ Emotionen nicht einfach loslassen. Dass das unter Umständen nicht so einfach ist, wird gerne ignoriert. Dass es, auch wenn es möglich ist, nicht unbedingt gut ist, ständig zufrieden zu sein, kommt einigen ebenfalls nicht in den Sinn. Die Zufriedenheit ist das oberste Ziel, egal, ob die Welt brennt, man diskriminiert wird oder Angst um seine Freund*innen hat. Fühlt man sich schlecht, muss man die Dinge einfach aus einem anderen Winkel betrachten oder gleich an etwas anderes denken, dass das eigene Hier und Jetzt nicht stört. Achtsamkeit ja, aber bitte nicht gegenüber schlimmen Dingen.

Es ist nicht gut, wenn es uns immer gut geht

Natürlich ist es falsch, jedes Gefühl todernst zu nehmen und man sollte immer reflektieren, gerade wenn man sich über etwas aufregt. Sicher gibt es zu viele Menschen, deren Wut nicht gerechtfertigt oder deren Angst dysfunktional ist und es ergibt keinen Sinn, sich zu lange an Stress festzuklammern. Aber stattdessen alle „negativen“ Gefühle per se abzuwerten (und die „positiven“ nie zu hinterfragen) ist auch nur das andere Extrem. Sinnvoller ist es vermutlich, sich darum zu bemühen, die eigenen Gefühle zu verstehen und richtig mit ihnen umzugehen. Stellt sich heraus, dass eine Emotion völlig fehl am Platz ist, kann man sie natürlich ziehen lassen, wie eine Wolke am Himmel. Aber eine Gesellschaft, die jeden berechtigten Ärger genauso loslässt, wird eine Gesellschaft von grinsenden Mitläufer*innen, die niemals am Status Quo zweifeln.

Vielleicht wäre es achtsamer, nicht nur die harmlosen Aspekte der Welt zu betrachten (oder alles Drastische zur persönlichen Chance auf Wachstum zu verharmlosen), sondern zu bemerken, dass es immer verschiedene Seiten gibt und sich damit abzufinden, dass manches eben unnötig und grausam ist, dass nicht alles einen Sinn hat. Vielleicht sind unangenehme Gefühle (oder Menschen, die sie zeigen) nichts, das es prinzipiell loszuwerden gilt, sondern berechtigte Zeichen dafür, dass etwas mit der äußeren Wirklichkeit nicht stimmt. Vielleicht ist es nicht gut, wenn es uns immer gut geht.

Dieser Artikel wurde zuerst am 27. April 2021 bei Negation.blog veröffentlicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden