Europa fürchtet, Europa hat Angst. Die Pariser Anschlagserie der IS-Terroristen versetzen die Menschen in Schreckstarre. Politiker setzen Krisensitzungen an, Medien berichten unermüdlich im Sekundentakt, Bürger versuchen das Geschehene zu verarbeiten. Jeder auf eine eigene Weise. Doch während die eine sehr klare Haltung haben, für die Opfer und ihre Angehörigen trauern, dann auf die Mörder und ihr Handeln fluchen, befinden sich Muslime einige Tage nach den Meldungen noch immer in einem Hexenkessel, dessen Flammen von eigenen Abwehrmechanismen angeheizt werden.
Der vergangene Freitag ist mit einem bitteren Nachgeschmack von Trauer in die europäische Gesichte eingegangen. Erneut fiel Paris dem Terror zum Opfer. Und während hunderttausende Stimmen in klanglautem Konsens Frankreich ihren Beistand aussprechen, wird in innerislamischen Kreisen eine Frage aufgeworfen, die seit 9/11 ihre Debattenkultur nicht minder prägt. Wie geht man damit um, wenn Terroristen die eigene Religion missbrauchen und mit ihr erbarmungslose Mordserien übertünchen? Distanziert man sich zusätzlich oder nicht? Und wenn ja, wie stellt man das an, ohne einen ohnehin befürchteten Generalverdacht zu bekräftigen?
Viele Muslime scheinen erschöpft zu sein. Müde vom Rechtfertigungsgesums, ausgelaugt von Distanzierungsphrasen – wohlwissend, dass sie ohne das Aussprechen dieser ja doch keine Ruhe finden werden. Denn während sie klarstellen, wie zuwider ihnen der lästige Widerhall von Beteuerungen sind, distanzieren sie sich erneut. Tun sie es nicht, kann es leicht passieren, dass nebst islamophoben Angriffen auch Schuldgefühle Überhand gewinnen.
Ja, dass die Terroristen mit dem tatsächlichen Islam genauso wenig zu tun haben, wie Pegida mit dem Gesamtvolk Deutschlands, sollte jedem klar sein. Dass sie sich mit ihren Morden trotzdem auf einen vermeintlichen Islam berufen, ist dennoch nicht negierbar, und das war es nie. Sie rufen das gleiche "Allahu Akbar", das Muslime vor jedem Gebet innerlich aufsagen.
Es gibt Muslime, die sich mit Geduld und Zuversicht gegen die vollkommen zweckentfremdete Interpretation des sogenannten Islamischen Staates positionieren, statt sich von ihr als etwas unsagbar Fernes zu distanzieren. Die das als Pflicht und nicht Last annehmen. Denn nicht wenige Muslime scheuen sich vor einer bedingungslosen Solidarität mit Paris. Man kann nahezu von einer Kollektivmattigkeit muslimischer Bürgerinnen und Bürger sprechen. Einer emotionalen Ohnmacht, womöglich durch einen lange aufgestauten Würdeverlust verursacht, der wiederum in einem Opferkomplex mündet. Es ist so: Wir Muslime sind es leid, wissen nur nicht, was genau.
Womöglich verfolgten an dem Abend auch viele Muslime das Spiel Deutschland gegen Frankreich nichtsahnend auf der Couch. Und wahrscheinlich hatten sie kurz davor ihr tägliches Nachtgebet, eines von insgesamt fünf am Tag, verrichtet. Versuchten den Alltag für einen Moment zu pausieren, die Gedanken zu drosseln und spirituell zu dösen. Fingen ihr Gebet dann mit denselben Worten an, wie die Terroristen ihre massive Mordserie begannen. Murmelten leise "Allahu akbar" und priesen so Gottes Größe auf arabisch, während wenig später jene in Paris mit diesen Lauten in die Menge schrien, um mit ihrer vermeintlichen Größe Angst und Schrecken zu verbreiten."
Die einen hielten nach dem Ausruf Gebetsketten in den Händen, die anderen Kalaschnikows. Auf den Händen der Muslims zuhause lag vermutlich noch eine nocht nicht ganz getrocknete, dünne Wasserschicht von der rituellen Waschung vor dem Gebet – auf denen der Terroristen hingegen das Blut Unschuldiger. Paris, das war ein erneuter Angriff auf das Prinzip der Humanität, welchem sich der Islam anschließt – aber in seiner Glaubwürdigkeit und Authentizität von Anschlägen wie diesen immer weiter diskreditiert wird.
In der Tat, es scheint sich dieser Tage eine schwierige Situation für Muslime anzubahnen. Viel mehr als der befürchtete Generalverdacht sind es die eigenen Emotionen, die ihnen diese Schwierigkeiten bereiten. Sie schwanken zwischen schwarz und weiß, ohne Ansätze der Differenzierung. Sie befinden sich in einem Dilemma: Wenn sie offen für die Pariser Opfer trauern, fürchten sie, Verrat zu begehen an den muslimischen Opfern des Terrors im Nahen Osten, für die es vergleichsweise eine geringere Welle an Beileid gab.
Die enorme Solidarität mit Paris führt dazu, dass sie sich der Kritik anschließen, die internationale Gemeinschaft interessiere sich nicht für muslimisches Leid. Doch es ist ein entweder-oder Konstrukt. Denn offensichtlich tragen gerade diverse Gemeinsamkeiten zu einem ausgeprägten Solidaritätsbedürfnis bei. Wenn Deutsche und Engländer ihren geographischen Nachbarn uneingeschränkten Beistand zusprechen, berufen sie sich meist auf eine europäisch bedingte Brüderlichkeit.
Menschen funktionieren nunmal nach dem Prinzip "je näher mir ein Leid, desto betroffener reagiere ich." Das mag man zu Recht als moralisch zu kurz gedacht empfinden, aber es ist natürlich. Und am wenigsten können die betroffenen Menschen in Paris etwas für diese Denkweise. Auf Kollektivhaltung wird mit Kollektivstrafe reagiert, und das ist falsch. Wenn einige Muslime nun angesichts von Opfermeldungen aus Syrien ein stechenderes Gefühl verspüren, als bei denen aus Europa, geht das neben der Regelmäßigkeit dieser Meldungen auch mit der gemeinsamen Religion, die man mit den Opfern und Leidenden teilt, einher.
Besonders in sozialen Medien wie Facebook oder Twitter offenbart sich die konfuse Haltung einiger Muslime. Die Pallette ist breit: Von Verschwörungstheorien bishin zu Relativierungsversuchen der 132 Toten durch anderweitiges Elend im Libanon oder Syrien ist vieles an Pietätlosigkeit dabei. Statt der Tricoleur-Profilbilder auf Facebook zeigten etwa viele kritische User die Flaggen ihrer eigenen Nationalitäten. Sie hüllten ihre Bilder in türkische, libanesische oder palästinensische Nationalfarben. So wollen sie auf die Vergessenen in besagten Ländern aufmerksam machen. Doch sie vergessen, dass auch die Verstorbenen und Verletzten aus Paris Unschuldige sind. Sie merken nicht, dass sie durch solch eine trotzige Attitude nur noch mehr Teilungen heraufbeschwören. So rufen sie jene Geister, die Pegida und Co. schon lange umschweben.
Statt zusammenzuhalten, wird zusammengesucht: alles was trennt, um diese Merkmale dann plakativ auszustellen. Es ist fast wie ein bockiges "Ihr leidet? Schön, wir auch!". Ein gefährliches Wettrüsten für mehr Opferandacht, bei dem die Trauer, um die es eigentlich geht, in den Hintergrund gerät. Das Leid in Beirut wird nicht selten für eine strikte Antipathie gegenüber europäischer Politik instrumentalisiert. Leichtsinnig wirft man mit Totenzahlen um sich, leichtsinnig geht man mit der Achtung vor Toten um.
Doch die kritisierte Hierarchie von Leid wird so lediglich bestärkt, das Fundament bruchfest gemacht. Sätze von Trauerbekundungen für Paris enden oftmals nicht, ohne eine Stadt im Nahen Osten zum Vergleich heranzuziehen, ganz so als schließe das eine das andere aus. Als wären nicht alle Zivilisten jedweder Ethnizität die Leidtragenden eines Terrors, dem wir alle gleichermaßen ausgesetzt sind. Was schlussendlich zu kurz kommt sind offenherzige Emotionen und humanistische Werte, fern von Nation und Religion. Zu trauern ohne Front und Feind, für all die Pariser Gesichter und libanesischen Geschichten, denen die feigen Kontrahenten unser aller ein jähes Ende setzten.
Uns muss klarwerden, dass IS schon lange keine gebündelte Meute mehr ist. Das Terrornetzwerk modelliert mit roher Gewalt und präzisem Kalkül ein System, dessen Ausmaß und Umfang bis in die Zentren der europäischen Metropolen reicht. Eine mächtige Gewalt, die den Frieden der gesamten Weltbevölkerung anvisiert und jeden Einzelnen bedroht, der Terror ablehnt. Dagegen kann nur gesellschaftlicher Zusammenhalt ankommen. Zusammenhalt, der mit dem Ende der Idee einhergeht, Leid nach Nationen zu kategorisieren.
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