Erzähle, Meister, erzähle

Kunst Arno Camenisch macht in seinem Reisebuch „Die Launen des Tages“ das Belanglose zum Ereignis
Ausgabe 45/2016

Von ersten Begegnungen, von der Liebe und vom bunten Treiben in den Großstädten erzählt das neueste Werk des gebürtigen Schweizer Autors. Es sind Erzählungen, die, würde man sie hier mit spröden Worten wiedergeben, nicht erzählenswert scheinen, keinen Stoff für Ankedoten liefern, den Erzähler nicht interessant machen. Aber die Kunst von Arno Camenisch ist es gerade, das Interessante aus dem scheinbar Belanglosen zu hobeln und mit einer gekonnten Technik dem Leser vor Augen zu führen.

Nach Nächster Halt Verlangen ist das Camenischs zweiter Band mit „Geschichten von unterwegs“. Gleich mit der ersten dieser Geschichten taucht der Lesende in den normalen Trubel eines Reisenden ein und lebt sich mit jedem weiteren Kapitel ein Stück tiefer in die Geschehnisse ein. Die Launen des Tages bieten nichts von dem, was Reiseberichte oft auch noch so miterzählen, aber überraschen genauso wenig mit großen Abenteuern. Vielmehr halten die Kurzgeschichten das Gleichgewicht zwischen dem routinierten Gang der Dinge und den unvorhergesehenen Begegnungen, oder jetzt doch krasser ausgedrückt: operieren an der Sollbruchstelle zwischen Turnus und Wahnwitz.

Der vielfach prämierte Autor (Kasseler Literaturpreis, Friedrich-Hölderlin-Förderpreis, Schweizer Literaturpreis …) aus dem Kanton Graubünden, der sein erstes Buch Sez Ner noch auf Deutsch und Rätoromanisch veröffentlichte und sich auch als Spoken-Word-Künstler einen Namen gemacht hat, hat mit seinem Reisenden eine Figur kreiert, deren hervorstechendes Merkmal gerade darin liegt, dass sie vollkommen konventionell wirkt.

Sprich, es gibt keine waghalsigen Unternehmungen, es werden keine überwältigenden Landschaften geschildert, weder reale noch seelische, und also wird weder verflossenen Liebschaften im Unterwegssein melancholisch nachgetrauert, noch verliert sich der Protagonist auf seiner Reise in den Schleifen der Sprache. Nein, Arno Camenisch schreibt knapp und prägnant, nicht ohne zu wissen, was den Lesenden gefällt: Das Landläufige erweckt leichter die Empathie und das Ungewohnte schneller das Interesse. Camenisch vermengt das eine mit dem anderen und kreiert so einen Stil, der fast schon eine Marke ist.

Situationskomik

Das Brenzligste in diesem kleinen 90-Seiten-Buch ist womöglich der Oldtimer, der während der Fahrt auf der Strecke bleibt, oder nein, es ist wohl doch ein Texaner, der den Sitznachbarn im Flugzeug mit seinem Patriotismus über Stunden quält. Die Episoden, von denen Arno Camenisch erzählt, lassen den aufgekratzten Reisenden fast immer in einer komischen Situation zurück und geleiten den schmunzelnden Lesenden in die nächste Episode. Wir schmunzeln umso mehr beim Lesen, weil Camenisch, wie jeder gute Humorist, mit großem Ernst vorgeht. Und es zeigt sich in diesem Buch vor allem auch, dass von Arno Camenisch nicht bloß als „Schriftsteller“ die Rede sein kann. Der Schriftsteller muss schon auch ein begnadeter Erzähler sein, denn nur ein solcher versteht es, den Leser auf sanfte Art in die Tiefen des Alltags zu führen. Wenn sich in einer der Geschichten eine Kioskverkäuferin in routinierter Verbitterung suhlt und von vergebener Liebe spricht – „glauben Sie mir, das ist wie mit den Lotterien, (...) die Leute kaufen nur die Sehnsucht, da ist selten was drin“ – und der Reisende kurz darauf nichts anderes tut, als einen Lottoschein zu kaufen, dann ist das so lebensklug wie amüsant gewendet.

Die wirklich interessanten Geschichten schlummern weniger in der Umgebung des Menschen, sondern in ihm selbst, scheint Arno Camenisch uns sagen zu wollen. Zehn Minuten in einem Bus in Hongkong, eine gefühlte Ewigkeit in einem Taxi in Rom oder eine halbe Stunde in der stehen gebliebenen Metro in Madrid – das sind die Momente im Dasein des modernen Reisenden, die zählen.

Alles Intermezzi, so wie das gesamte Buch im Grunde genommen ein einziges Intermezzo ist. Gefüllt mit lustigen Gesprächen, unterhaltsamen Passagen und lehrreichen Ratschlägen, ganz besonders aber gefüllt mit Leben. Eine geistvolle und leichte Lektüre zugleich.

Info

Die Launen des Tages Arno Camenisch Engeler-Verlag 2016, 90 S., 19 €

Nur für kurze Zeit!

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Geschrieben von

Büşra Delikaya | Büsra Delikaya

Studentin (Germanistik und Geschichte), Schreiberin, freie Journalistin

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