Solidarität leben!

Orlando Die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Missständen in der muslimischen Community wird systematisch gescheut. Das muss sich ändern

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Muslime beten in Orlando für die Opfer des Massakers
Muslime beten in Orlando für die Opfer des Massakers

Bild: Drew Angerer/Getty Images

Es sind traurige Bilder, die uns an diesem Tag von den Bildschirmen entgegenflimmern. Entsetzen und Trauer hängt spürbar schwer in der Luft, während Verletzte aus einem Schwulenklub getragen, Tote geborgen werden. Kurz zuvor eröffnete ein 29-Jähriger Mann das Feuer und nahm mindestens 50 Menschen das Leben. Angehörige, die von letzten Nachrichten und Bildern berichten, heben die Grausamkeit der Tat erneut hervor. Dass der Täter laut Angaben ein praktizierender Muslim war, wirft angesichts des kollektiven Unverständnisses das Attentat in einen unangenehm deutlichen Kontext. Er war vermeintlicher Muslim und er war homophob, was in der Tat keine Seltenheit ist – unabhängig davon, dass Homophobie natürlich auch in christlichen Kreisen häufig vorkommt.

Muslimische Homophobie ist nicht negierbar

Der Mörder bekannte sich wohl zur IS-Terrormiliz, Ansätze von Radikalisierungen seien dennoch nicht ersichtlich gewesen. Der in Florida aufgewachsene Mateen war Beschreibungen zufolge ein ruhiger, in sich gekehrter Typ, der oft zum Abendgebet die Moschee besuchte und seine Religion praktizierte. Seiner Ex-Frau gegenüber hingegen wäre er gewalttätig gewesen, habe sie geschlagen. Er war vermeintlicher Muslim und er war aggressiv, eine Assoziation, die antimuslimischen Stimmen in die Hände spielt.

Und ja, er war kein Muslim, der den Islam ansatzweise verstand. Der seine Praxis zwar verrichtete, die Essenz seiner Religion aber nie verinnerlicht hatte. Er lebte den Islam nicht, er führte ihn bloß aus, ohne ihn wirklich zu begreifen. Und natürlich beteuern nun alle Muslime zu Recht, das alles habe nichts mit dem Islam zu tun. Weder was er tat noch warum er es tat ist mit seiner vorgegebenen Intention vereinbar, ist im Islam doch das Töten eines Lebewesens, von Mensch bis hin zur winzigen Ameise, eine Abscheulichkeit.

Aber Mateen gab vor, Muslim zu sein und wahrscheinlich glaubte er, ein guter zu sein. Es genügt nicht, sich bewusst zu sein, dass die Tat des Attentäters grausam war. Es muss deutlich werden, dass auch der Grund dafür verwerflich ist. Es scheint bei einigen Muslimen fast so, als wären sie in erster Linie über die blutige Tat als solches, nicht aber unbedingt über die Intention entrüstet.

Fehlender Diskurs

Denn Homophobie ist real, weit verbreitet und auch in muslimischen Kreisen tief verankert. Viel zu wenig wird darüber gesprochen. Die Gefahr, Hassquellen abzutun, zu negieren oder gar zu ignorieren ist verantwortungslos von uns allen.

Erst jetzt tun sich Fragen auf, und in muslimischer Realität lange inhärente Aversionen werden nun ein Stück weit problematisiert. Womöglich aber für eine sehr begrenzte Zeit. Denn ein langwieriger Diskurs über die homophoben Züge muslimischer Communities ist nie wirklich entstanden, geschweige denn zu nachhaltigen Veränderungen zu führen. Wenn überhaupt wurden theologische Aspekte debattiert. Nie wurden die gesellschaftlichen Missstände aufgegriffen, nie das salonfähige Unterminieren sozialer Teilhabe homosexueller Muslime diskutiert. Die eigene Konfrontation wurde und wird systematisch gescheut.

Nun regt sich einiges, nachdem mindestens 50 Menschen starben. Erst mit einem Gräuel solch verheerenden Ausmaßes erwachen Muslime aus ihrer tiefen Lethargie. Wenn die Gesellschaft verändert und verbessert, Problematiken umgewälzt und aufgewühlt werden soll, muss ein jeder vor der eigenen Tür beginnen. Gibt es soziale Miseren, tragen wir alle die Verantwortung diese mindestens in dem eigenen Umfeld anzusprechen und falls vorhanden, zu eliminieren.

Wo Unrecht ist, da sind Muslime verpflichtet, Position zu wahren, egal ob sie sich mit der Person in der Opferrolle oder seinem Tun und Handeln identifizieren können oder nicht. Das Recht, andere auf Grund ihrer sexuellen Orientierung schlechter zu behandeln oder gar aus eigenen Kreisen auszuschließen, ganz egal was für eine Meinung man persönlich vertreten mag, existiert nicht. Es geht um ein menschliches Miteinander in toleranter Friedfertigkeit, der Grundpfeiler einer jeden intakten Gemeinschaft. Vor allem, wenn es sich um eine Gemeinschaft handelt, die einen Propheten als ihr Vorbild versteht, der bis zum letzten Atemzug personifizierte Nachsicht und Güte war.

Solidarität ist eine islamische Tugend

Menschen kann man nur vollständig erreichen, wenn ein respektvoller Dialog entsteht. Wenn die Kommunikation jedoch mit Ausschluss und Geringschätzung behaftet ist, kann und darf niemand vom Gegenüber erwarten, sich selbst zu öffnen. Wenn Homosexualität in muslimischen Kreisen noch immer so stark tabuisiert wird, ist es nicht verwunderlich, dass sich muslimische Homosexuelle von Moscheegemeinden entfernen und schlussendlich von ihrem Glauben abwenden. Es ist einer der Gründe für den Groll von nichtmuslimischen Homosexuellen gegenüber Muslimen im Allgemeinen: Sie müssen spüren, dass jedem ein unantastbarer Platz in der Gemeinschaft, ein gleich großer Teil des großen Gebetsteppichs in der Moschee, zusteht.

Solidarität ist eine islamische Tugend. Zum Islam gehört Zuvorkommenheit, Rücksicht auf andere – und nicht Willkür. Der Islam ist offen und zugänglich für alle und schreibt jedem eine autonome Selbstbestimmung zu, frei von auferlegten Zwängen. Die Entscheidung, das Leben so zu gestalten, wie es einem beliebt, sofern es niemand anderes Willen bechneidet, liegt nach islamischen Grundsätzen einzig und allein in den Händen des Individuums. Niemandem steht bei Entscheidungsfällung eine Ächtung zu.

Aber es scheint nicht rar und liegt nicht fern, dass besonders in muslimischen Kreisen ein hoher Grad an Homophobie zu beobachten ist. Der Hass macht kein besonderes Tamtam um seine Existenz und genau das ist das Kernproblem. Er liegt häufig in kürzesten Aussagen, unauffälligen Betonungen gewisser Worte, oder einfach nur in Grundhaltungen, die so etabliert scheinen, dass sie nicht einmal mehr hinterfragt werden.

Insbesondere die muslimische Jugend muss dahingehend dringend sensibilisert werden. Es kann nicht sein, dass ein unter vielen Jugendlichen bekannter türkischstämmiger YouTuber auf der Videoplattform einen „Streich“ hochlädt, der aus einem falschen Outing besteht, um dabei die Reaktion seines Vaters zu filmen. Dass dieser ihn dann außer sich vor Wut fast schlägt und der Junge ihn lachend zu beschwichtigen versucht, es sei ja bloß ein Scherz gewesen, wird mit Humor statt mit notwendiger Besorgnis aufgenommen. Auch betiteln junge Muslime oftmals für sie Widersinniges als „schwul“ und „homo“. Diffamierung wird zum Slang – ein Phänomen, das weit über die muslimische Community hinausreicht. Es scheint okay, niemand spricht darüber und schon gar nicht dagegen, bis es sich normalisiert und ein berechtigter Diskurs darüber als Wortklauberei betrachtet wird. Wenn dann jemand die Problematik anspricht, wird nicht selten auch mal das islamische Verständnis und die religiöse Authentizität der Person in Frage gestellt. Das ist fatal.

Auch ist auffällig, dass vor allem Männer einen ausgeprägteren Degout zu Schwulen in sich tragen, was vermutlich zum Teil mit einem Männlichkeitskomplex einhergeht. Nicht selten wird etwas noch so unscheinbar Feminines abfällig als etwas Schwules angeprangert. Der Grad an Maskulinität wird dann mit der Absenz jeglicher selbst kategorisierter Feminität gemessen und diese in absurde Korrelation mit dem Wert der eigenen Person als Mann gebracht. So ist es nicht abwegig zu sagen, dass homophobe und patriarchale Züge sich an bestimmten Punkten durchaus kreuzen können.

Kampf der Phobie

Zu selten erlebt man beispielsweise noch, dass Muslime gegen Hassbewegungen arbeiten, die sie nicht selbst betreffen. Wir können uns aber nicht immer nur dann einsetzen, wenn es um eigene Rechte und Interessen geht, nur dann unsere Stimme erheben, wenn der Ton gegen unsere Reihen schreit. Wer Solidarität einfordert, der muss Solidarität leben und wer eigenhändig Feindseligkeit ankurbelt, der muss Feindseligkeit einstecken können. Wir können nicht ausschließlich über Islamophobie reden, wenn in eigener Riege Homophobie, Antisemitismus, Antiziganismus und kultureller Rassismus existieren.

Muslime sind nicht die einzige Minderheit, die unter täglichen Anfeindungen leiden und nicht jeder Hass dreht sich um den Islam. Erst wenn wir aufhören, Solidarität mit Sympathie abzuwägen und beginnen, Voreingenommenheit in jedem Kontext gleich unerträglich zu finden, kann auch außerhalb unserer Gemeinschaft eine Einheit entstehen. Denn wer das exakt selbe tut, wogegen er anzukämpfen meint, der hat den Kampf nicht im Geringsten verstanden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Büşra Delikaya | Büsra Delikaya

Studentin (Germanistik und Geschichte), Schreiberin, freie Journalistin

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