In der deutschen Nachkriegsliteratur bewegte er sich als Koryphäe und noch heute währt seine literarische Autorität. Denn ein Siegfried Lenz mag sterblich sein, doch die Tinte seiner Feder scheint auch nach seinem Ableben nicht trocken. Nun erschien posthum, 17 Monate nach dem Tod des deutschen Schriftstellers, ein vermeintlich neuer Roman. Einer, der selbst seinen engsten Freunden und seiner Frau Ulla Reimer bis dato unbekannt blieb. Lenz' "Überläufer" wurde bereits 1951 verfasst, unmittelbar danach dem damaligen Lektor Otto Görner vorgezeigt. Doch die moralischen Grundhaltungen der beiden widerstrebten sich.
Einst ein regimetreuer SS-Soldat auf der einen, ein visionärer Pazifist auf der anderen Seite. So zerfloss die anfängliche Begeisterung des Lektors über das damals als "Der Sumpf" geplante Werk in einer ideologisch bedingten Krittelei. Eine mögliche Gegenhaltung des Autors zerbarst erstaunlich schnell, Lenz nahm sich den Worten des Verlages Hoffmann und Campe freundlich an und ließ nach. Das Manuskript landete unberührt und unbesiedelt von weiteren Be- und Überarbeitungen in der Schublade, ruhte dort in langer Vergessenheit.
Jetzt, nach 65 Jahren, erwächst "Der Überläufer" wie Phönix aus der Asche, brilliert auf Bestsellerlisten und vereinnahmt sowohl Leser, als auch Kritiker. Eine überraschende Neuerscheinung, die vertraute Züge des Autors aufzeigt. Siegfried Lenz war freilich kein Mann der großen, er war ein Mann der einfachen, aber prägenden Worte. Er wusste mit ihnen zu spielen, sich dem uferlosen Spektrum des Deutschen zu bedienen. In dem altneuen Roman erinnert er, weshalb er 55 Jahre literarisches Erfolg verbuchte.
Als distanzierter, fast schon kühler Erzähler skizziert er ein kriegerisches Geschehens, legt dabei sein Augenmerk sachte aber bestimmt auf die Charaktere des Buches. So hätten die Kameraden des jungen Soldaten und Protagonisten Walter Proska, der wie Lenz selbst aus dem masurischen Lyck stammt, nicht unterschiedlicher sein können. Zwiczosbirski, kurz "Schenkel" genannt, der mit seiner ulkigen Naivität der Zermürbnis ein jedem Krieg die Stirn zu bieten vermag. Oder Wolfgang alias "Milchbrötchen", trotz jüngsten Alters mit seinem Intellekt und kritischem Geist als Kopf der Truppe zählend, gar als Sprecher der tiefgreifenden Kritik seines Autors zu fungieren scheint, und danach agiert.
Krieg und Milde vereint
Unterschiedlich in ihren Wesen, aber auch ihrer entsprechenden Verarbeitung von ständiger Todespräsenz. Es ist nahezu vergleichbar mit einem psychedelischen Zustand; das Aufnehmen der lächerlich milden Erzählung einer umso schwermütigeren Lage. Trauertöne und Kriegsklagen übertönt der Autor mit melodischer Komik. Das hätte sich durchaus auch als makaber, gar taktlos entwickeln können. Doch es funktioniert.
Mit Lenzscher Bravour baut der deutsche Schriftsteller einen ungewöhnlichen Konnex von humoristischer Milde und gesellschaftskritischer Kriegsnarration auf. Vor allem diese Fusion verleiht dem Roman den wohltuend ergänzenden Charakter. Während der Leser sich beispielsweise in der Gedankentiefe der Aussage von Schenkel, Krieg sei immer komisch und Krieg sei immer eine Überraschung windet, tingelt er eine Seite später auf der erheiternden Gerade vom selben Kameraden Proskas umher, der an einem aussichtslosen Kampf mit einem Hecht verzweifelt.
Es ist so: Das Buch bietet Flucht und Zuflucht zugleich. Gedankliche Flucht vor den tragischen Wirren einer Kriegszeit, seine Zuflucht in der Art und Weise, wie diese mutig und bedacht ad absurdum geführt werden. Ein Ausdruck zwischen Stirnrunzeln und Schmunzeln auf den Gesichtern der Lesenden ist gut vorstellbar. Angesichts der sprachlichen Bildkraft ist auch ein grüblerisches Dösen nicht fern.
So führt Lenz seine Leser unter die sengende Sonne eines Schlesiens, welches das Jahr 1944 datiert. Proska sitzt uniformiert im Zug, kehrt von einem kurzen Besuch in der Heimat zurück. Darin stürzt er sich wortwörtlich in sein bevorstehendes letztes Kriegsjahr an der Ostfront. Der Zug Richtung eingeteilter Front wird in die Luft gejagt, Proska überlebt und stößt indes auf eine Gruppe seiner späteren Kameraden und Freunde. Mit Partisanen, Mücken und Schweißtropfen im Nacken waten die Soldaten durch Sumpfgebiete, das Ziel "Waldesruh" vor Augen. In der Festung erwartet sie dann die scheinbare Personifikation von militärischem Drill, der Unteroffizier Willi Stehauf, dessen Name schon mit einer absurden Symbolik unmittelbar entgegenschlägt.
Die enorme Authentizität des Korporals lässt nur erahnen, wieviel Erfahrung und Erlebnis Lenz' eigener Marinezeit in diese Person hineinfloss. Mit auffallender Sicherheit schildert er die unnachgiebige Härte eines hochambitionierten Offiziers. Zwischen so glaubwürdig und spürbaren Phrasen wie "Hier befehle ich, wann Ruhe ist, kapiert?" und "Der wird Wache schieben müssen, bis ihm die Kniescheiben aus der Brust glotzen." scheint der einstige Soldat Lenz herauszulugen - der vermutlich die Frage von Pflicht und Schuld auch damals in sich trug, sie dann erstmals in Romanen wie "Deutschstunde" aufwarf und festhielt.
Besoffen von der Pflicht
Es ist bekannt, dass Siegfried Lenz gegen Ende seiner Militärzeit desertierte. Gleichsam ist auch seine kritische Haltung gegenüber dem Militär bekannt, und seine pazifistische Gesinnung. In der literarischen Parallelwelt geht "Milchbrötchen" der Frage nach, inwiefern Soldaten einem Pflichtgefühl erliegen sollten und müssten. Damit knüpft er an. An Problemfragen, die in der Zeit des Verfassens von einer unheimlich großen Gewichtung waren. Und damit wagte er für 1951er Verhältnisse etwas Revolutionäres und ungemein Mutiges. Dass der Roman erst 2016 erschien, kann seiner dennoch nichts anhaben
Doch es wäre nicht abwegig von zwei Leserschaften zu sprechen. Eine, die nie existieren konnte, da ihr Buch nie erschien. Und eine, die nun erst nach 65 Jahren das nie für sie bestimmte Buch in die Hand nimmt. Jene Leser, deren Existenz sich Lenz beim Verfassen nicht einmal bewusst war. Er schrieb Kritik an der militärischen Pflicht nieder, die damals auf eine ganz andere Weise auftrat und Thema war.
Lenz spricht nicht bloß von der militärischen Pflicht des Einzelnen, sondern ihrem kollektiv erstarkenden Gefühl. Das eine war von dem anderen nicht mehr zu trennen, denn die Leute fühlten sich nunmehr auch emotional verpflichtet. Wohl auch durch den weit verbreiteten und als normativen Maßstab für die Vaterlandsliebe geltenden, militanten Patriotismus. Der 51er Leser hätte, sechs Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, aus einer komplett anderen Warte heraus auf den "Überläufer" geblickt, die Worte anders aufgenommen, andere Reaktionen gezeigt. So einstimmig positiv wie sie im 2016 Deutschland fiel, wäre die Resonanz vermutlich nicht gewesen. Der heutige Leser nimmt sich der Kritik im Durchschnitt vermutlich eher und viel bedenkenloser an, als es der dieser Thematik um einiges empfindlicher und vorbelasteter eingestellte, damalige Leser getan hätte.
Die Kritik, die vom Autor ausgeht, ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen. So scheint Proskas Kamerad "Milchbrötchen" den Leser an der Schulter zu tippen und auf gegenwärtige Missstände zu deuten. Ein leises aber bestimmtes Raunen schwingt beim Lesen seiner Worte mit - Hinterfragen sollst du! Er erzählt geknickt von seinem Vater, der bei Warschau gefallen ist, von seiner Mutter, die schreckliche Angst um ihn hat. Und von dieser bedrückenden Sache mit der Pflicht. "Dieses Zeug haben sie uns unter die Haut gespritzt." und "Die haben versucht, uns durch eine raffinierte Injektion von Pflichtserum besoffen zu machen." Den aufflammenden Patriotismus malt Lenz als "Nationalbewußtseinsschnaps" vor das bildliche Auge. Mit diesem prosten und schwören die Ergebenen der spielenden "Vaterlandsflöte" auf eben dieses Vaterland - und sitzen dann in der Falle.
Wie der Roman begann, so verläuft er einem überschaubar roten Faden folgend weiter. Im Zug mit einem schönen Partisanenmädchen und ihrem vermeintlich toten Bruder in einer Urne, in der in Wahrheit Sprengstoff versteckt liegt, gibt Lenz den Auftakt eines Romans, dessen starken Fängen sich Liebhaber sprachlich simpler Tiefe nicht entledigen können. Der Feder eines Lenz können das bekanntlich ohnehin die Wenigsten. Selbst nach seinem Tod.
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