Auf goldenen Flügelschuhen

MYTHOS ADELT Der Mythos auf dem Weg zum globalen Allerweltsbegriff

Allein der Titel erregte Aufmerksamkeit. "Mythos Höhentraining" war unlängst ein kurzer Artikel auf den Sportseiten einer Schweizer Zeitung überschrieben, Darin wurde berichtet, wie sich Leichtathleten für Olympia 2000 in der Höhe vorbereiten würden, auch wenn die Wirkung solchen Höhentrainings wissenschaftlich erst unzureichend erhärtet sei. Hatte sich nicht schon der verschlagene Götterbote Hermes, von dem ehrfürchtig erzählt wurde, seine Schnelligkeit rühre von goldenen Flügelschuhen her, auf dem wolkenverhangenen Olymp sportiv ertüchtigt? So berichten es wenigstens die Sammlungen antiker Mythen. Was aber will die Zeitungsgeschichte besagen?

Mythischer Klatsch

Seit altersher muss sich das Hohe im Trivialen beweisen, wenn es bei den Menschen Gefallen und Hochachtung finden soll. Schon Zeus beförderte einen Mitgott mit einem schnöden Fusstritt vom Götterberg. Oder er ergoss sich in Form von Regen zur Erde herunter, um die im Turm eingeschlossene Schöne zu begatten. Solche menschlichen Impulse des Göttervaters erregten bei den Athenern kaum Anstoß, im Gegenteil regten sie dazu an, sie fleißig weiter zu erzählen. Mythen nennen wir heute diese Geschichten, nach dem griechischen Wort für Erzählung, Fabel oder Sage. Wie das Beispiel bezeugt, sind Mythen auch dem Klatsch nicht abhold, wenngleich sie sich laut Begriffsdefinition "meist vor der Folie eines kosmischen oder übernatürlichen Bezugsrahmens abspielen". Von Mund zu Mund ausgeschmückt berichteten sie in vorwissenschaftlicher Zeit vom Beginn der Welt ebenso wie von den Schandtaten des Göttervaters und bedeuteten dergestalt die Unschärfe zwischen Hohem und Trivialem.

Aus dem Chaos der unterschiedlichen volkstümlichen Erzählquellen sowie dem Durcheinander von Göttern und Halbgöttern, trafen speziell Dichter wie Homer oder Hesiod eine geordnete, erklärende Auswahl und begründeten so den klassischen Kanon der antiken Mythen. Dass ihre Beschreibung der Götterwelt gerne auch ironische, ja frivole Züge annimmt, machte diese Texte ebenso unterhaltsam wie problematisch. Philosophen wie Platon warnten Erzieher eindringlich vor den "üblen Erzählungen" und sinnlosen "Lügenmärchen". Doch das menschliche Bedürfnis nach Erzählstoff mochte sich von dieser Warnung nicht schrecken lassen. Ob verwerflich oder nicht, die heidnisch patriarchale Grundsubstanz der klassischen Mythen hielt sich selbst im nachantiken Christentum, indem dieses sie häufig in eigene Legenden- und Sagenstoffe hinein verwob.

So unterschiedlich die Gründe dafür gewesen sein mögen, jede ernsthafte Rückbesinnung auf das Alte, Vergangene, die Antike, versuchte sich von neuem am Verständnis der altertümlichen Geschichten. Dabei gerieten diese als eine Art allegorisches Beispiel in den Bezugrahmen des bürgerlichen Bildungskanons. Die mythischen Geschichten wurden als geschichtliche Zeugnisse einer idealen Kultur gelesen, die bei seriösem Studium Aufschlüsse über wichtige Zusammenhänge von Natur und Mensch versprachen und sich für die Grundlegung eigener Ideologien anboten.

Insbesondere die spätromantische Zusammenfassung in Gustav Schwabs Schönsten Sagen des klassischen Altertums (1838-40) imprägnierten das bürgerliche Bildungswissen mit den antiken Götter- und Helden-Geschichten. Der Olymp, einst magischer Projektionsort allzu menschlich lockerer Sehnsüchte, wurde zur stolzen Burg anständiger Bildung. Wer zu wenig mythologische Grundkenntnisse vorweist, sieht sich unversehens als Abgewiesener vor der geradezu uneinnehmbaren Festung, deren innerstes Arkanum akademisch und pädagogisch besetzt ist.

Der Mythos vom heiligen Forst

Doch die Zeiten wandeln sich, und die einst vergeblichen Belagerer der bildungsbürgerlichen Burg verfügen längst über einen neuen und attraktiveren Zugang zur olympischen Mythensphäre. Die US-amerikanische Gesellschaft kultiviert seit dem 19. Jahrhundert konsequent und für den Rest der Welt vorbildlich mit ihren eigenen Kolonisatoren- und Gründungserzählungen eine neue Form einfacher mythologischer Botschaften. In dem vom Dichter Walt Whitman besungenen "Land der luftreinen, endlosen Hochebenen" hat die cinemaskopische Horizontale den wolkenverhüllen Götterberg abgelöst. "Go west" heißt die Losung der heroischen Gestalten, die prometheisch sich und ihrer Gesellschaft das Pionier-Feuer des Fortschritts sichern und laufend erneuern - "Go west" bis tief hinein in den "heiligen Forst" Hollywoods.

Die griechischen Göttergeschichten mögen bisweilen unglaublich, ja lächerlich wirken, etwa wenn der erst vier Tage alte Lyra-Erfinder Hermes dem Apollo die Viehherde davontreibt oder derselbe, mit seinen goldenen Flügelschuhen bekleidet, Diskus- wie Redewettkämpfe gleichermaßen souverän gewinnt. Was dagegen die Traumfabriken des Films und der Werbung in Hollywood an amerikanischen Geschichten massenweise bebildern und vermarkten, scheint alles andere als unglaubwürdig. Ob Michael Johnson in goldenen Schuhen, die nach Hermes olympischer Kollegin, der Siegesgöttin Nike benannt sind, förmlich zum Sieg fliegt, der junge Elvis Presley seine Rock-Gitarre um die lockere Hüfte schwingt, der Marlboro-Cowboy die Rinder in Richtung Schlachthöfe treibt und Billy the Kid sie gleich wieder stiehlt: die Wirklichkeit, der alltägliche, kleinbürgerliche American way of life erscheint durchmythologisiert. Nike-Turnschuhe passen als effiziente Konsum-Ikonen gleichermaßen an Athleten- wie an softe Informatiker- und Rentnerfüsse. Selbst kosmische Touristen tragen sie auf ihrem Trip zum "Himmelstor".

Das große Aufsehen, welches der Unfalltod von John F. Kennedy jr. im letzten Jahr in der Weltöffentlichkeit erregte, ließ Zeitungskolumnisten Worte von einem über den Kennedys obwaltenden mythischen "Atriden-Fluch" finden. Wird in der griechischen Antike dieser Fluch erklärbar aufgrund eines Mordfrevels in der Frühgeschichte des Atreus-Clans, welcher ihn über Generationen hinweg büssen lässt, bleibt der "Kennedy-Fluch" demgegenüber unbestimmt. Ein unerklärlicher Spielball des blinden Schicksals, versorgt der Kennedy-Clan bloß das Medieninteresse mit beliebigem Illustrationsmaterial für bürgerliche Familienängste.

Im Unterschied zur kollektiven Anteilnahme, die der Tod von JFK jr. auslöste, wurde die medial ausgeschlachtete Geschichte von der Liebe und dem Tod der Prinzessin mit dem mythopoetischen Namen Diana zur romantisch getönten Projektionfläche von individuellen Sehnsüchten. Der Windsor-Clan-Mythos blieb davon unbeeindruckt.

In beiden Fällen avanciert der Mythos zum globalen Allerweltsbegriff, der Gerüchte wie Legenden ohne religiösen oder regionalen Beigeschmack als Ausdruck der stets gegenwärtigen Schicksalsmacht überhöht und gleichzeitig in der Flut der Alltäglichkeiten bis zur willkürlichen Austauschbarkeit banalisiert. In solcher Gespaltenheit unterscheidet sich das aufgelockerte heutige Mythenverständnis von den historischen Entmythifizierungsversuchen speziell in der Nachfolge der 68er Bewegung. Zeichneten sich diese durch zielgerichtete Demontagelust sowie den Hang zu emanzipatorischen Neukonstruktionen aus, triumphiert nunmehr das freie und oft kommerzialisierte Spiel mit den alten Geschichten.

Aura des Seriösen

Im Grunde genommen ist diese medienwirksame Leichtigkeit resignierender Ausdruck dafür, dass sich der Mythos letztlich einer rationalen Auseinandersetzung weitgehend verweigert. Seine ambivalente Erzählhaltung, seine wilde Art des logischen Denkens oder seine uneingeschränkte Verfügbarkeit lassen die vielfältigsten Verwendungs- wie Manipulationsmöglichkeiten zu. Tendenziell sind Mythen dabei eher für konservative, rechte Anliegen instrumentalisierbar. So wählt sich der wirtschaftliche Neoliberalismus mit Bedacht gerne seine Beispielsmythen aus dem Repertoire populistischer Nationalismen, um zynisch den Wertezerfall zu kaschieren, der aus der von ihm gleichzeitig vorangetriebenen Technisierung, Rationalisierung und Globalisierung resultiert. Die seit dem 19. Jahrhundert ritualisierte Erzählform der mythischen Nationen-Geschichten (re)aktiviert ein Gefühl der kollektiven Opferbereitschaft, um sich im Spannungsfeld von Sieg und Niederlage, Gemeinschaft und Aussperrung, Fortschritt und Restauration an vorgegebenen Handlungs- und Sendungsmustern zu orientieren. Und bisweilen gebiert die mythisch-völkische Phrasendrescherei hierbei unheilvoll die Wirklichkeit, indem sie auf dem Feld der nationalen Ehre in handfeste Gewalt umschlägt. Wo wir Glück haben, suchen sich solche Mythen dagegen nur in sportiven Veranstaltungen zu entladen.

Wer dafür sein Höhentraining mythisch apostrophiert, spielt postmodern ein wenig mit allem: den hehren Vorstellungen vom klassischen Olymp, den mythischen Neuschöpfungen der Moderne (Alltagsmythen), der Entmythifizierung einer bis anhin unkritisch überschätzten Trainingsauffassung und einer persönlichen Variation der sportlichen Vorbereitung. Der Mythos scheint unbegrenzt, er erscheint heute in allen möglichen Zusammenhängen, etwa in Werbekampagnen ("Mythos Tierversuch"), Psychokursen ("Mythos der Führung") oder kollektiven Freizeit-Zerstreuungen ("Die Macht der Mythologie. Die Star Wars Expo zum Film").

Alles ist irgendwie mythisch, doch bei aller Beliebigkeit signalisiert der Begriff Mythos stets etwas Tiefes, Ewiges und Wahres. Er ist also kein blosses Gerücht, kein Klatsch, kein Märchen, keine Sage, vielmehr ein altbewährtes Erzählmuster mit seriöser Ausstrahlung, das speziell am Ende eines Jahrhunderts, eines Jahrtausends, welches sich mit sinnvollen Ausblicken in die Zukunft gerne schwer tut ("Millenium Bug"), gewichtige Hilfe verspricht. Ein Versprechen, dem gerade aufgrund seiner magischen Unschärfe Vertrauen erwächst. Mythos adelt. In diesem Sinne zählt er zu Adornos Bestand an Jargonbegriffen, die in der Tradition verharren und "klingen, wie wenn sie ein Höheres meinten, als was sie bedeuteten". Zugleich freilich lichtet die postmoderne Indienstnahme des Mythos die Wolken um die bildungsbürgerliche Burg des hohen Ernstes.

In ihrer Dunkel- wie Dünkelhaftigkeit wirken Mythen gerne versöhnlich wie ein Sedativ in hektischen Stresslagen, anschaulich erzählend und zugleich ethisch richtungweisend, darüber hinaus mit esoterischer Spannkraft in unerreichbare Höhe entrückend. Mythen heben Wünsche und Ängste auf und setzen vertrauenswürdig einen Anker ins Meer der Globalität und Virtualität.

Doch, so scheint es, kehren sie regelmäßig aus dem eigenen Höhentraining wieder gestärkt zurück, um sich in den Niederungen der trivialen Alltäglichkeit neu zu bemühen. Mal als Hermes, mal als Joschka Fischer.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

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