Der ungarische Autor Laszlo Krasznahorkai hat ein berückendes Japan-Buch geschrieben. Es lässt den Leser eintauchen in eine befremdende Welt, in der die Zeit still gestellt scheint.
"Ein Traum: eine fremde (befremdliche) Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen: in ihr die Differenz wahrnehmen." Nach diesem Motto verarbeitete Roland Barthes in Das Reich der Zeichen die Erfahrungen seiner Reise durch Japan. Die Differenz manifestiert sich in Distanz und wird nur allzu gerne überbrückt durch metaphorische oder symbolische Vereinnahmungen. Doch Japan funktioniert im Sinne Barthes´ ganz anders. Die Ordnung der Zeichen, literarisch etwa im Haiku ausgedrückt, verweist nicht auf Unsagbares, sie ist vielmehr exakt das, was sie beschreibt: ein "Innewerden der Sache als Ereignis und nicht als Substanz."
Darin steckt ein Mysterium, das ansteckend wirken kann auch als Gegenentwurf zur westlichen Sinngebung. Barthes´ Erfahrung demonstriert sowohl die Lust an Japan wie die Gefahr, ihr auf exotische Weise zu erliegen. Beide Elemente sind präsent auch in Laszlo Krasznahorkais Roman mit dem wunderbar japanisch anmutenden Titel Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss. Exakt im Zentrum dieser topographischen Beschreibung liegt im Umland von Kyoto eine verlassene riesige Klosteranlage, in der die Zeit still steht. Der Enkel des Prinzen von Genji, ein Abgesandter aus einer fernen Zeit, besucht den Ort, um darin den schönsten der "hundert schönen Gärten" zu finden.
Krasznahorkai begleitet seinen Schützling mit beinahe zeremoniellem Gleichmut, indem er behutsam Wort neben Wort setzt und Eindruck an Eindruck reiht. Bis in die feinsten Verästelungen beschreibt er das Kloster, in dem vor 1.000 Jahren die rituelle Ordnung zu Ehren des "Buddhas mit dem abgewendeten Blick" in reine Architektur aufgehoben wurde. Er schildert, wie an den Hängen des Berges im Norden die Hinokizypressen nach traditionellem Gesetz ausgewählt, gehegt und gefällt wurden, damit sie ihren Platz in dieser festgefügten Ordnung einnehmen. Inmitten all dessen findet der Enkel des Prinzen Genji ein Buch mit dem Titel Das Unendliche, ein Irrtum, worin ein gewisser Sir Gilmore die absolute Endlichkeit der Wirklichkeit beweist.
Unwillkürlich bewahrt Krasznahorkais Text so eine eigentümliche Ambivalenz. Eine hochmoderne Monorail bringt den Enkel des Prinzen Genji in die Gegend, auf dem Bahnhof, wo er aussteigt, stehen Getränkeautomaten herum, aus denen sich seine abgehängten Begleiter mit Bier versorgen. Die Grenzen zwischen Tradition und Moderne verwischen sich.
Ist es eine wunderbare exotische Projektion, die der Autor hier entwirft, oder das geheimnisvolle Bild einer fremden Essenz? Es bleibt in der Schwebe. Gewiss jedoch ist die hohe sprachliche Meisterschaft, der souveräne Stilwille des Autors - und mit ihm seiner vorzüglichen Übersetzerin Christina Viragh. Den Bildern, die er in unserem inneren Auge erweckt, können wir uns trunken hingeben. Ahndungsvoll offenbart seine befremdliche Sprache die Differenz.
Krasznahorkai entwirft ein radikales Gegenbild zur westlichen Konsumkultur, in der die Sorgfalt und der Respekt vor marginalen Dingen abhanden gekommen scheint. Die Titelfigur bezieht sich anspielungsreich auf eines der großen japanischen Bücher: Genji monogatari, die Liebesabenteuer des Prinzen Genji welche die Autorin Murasaki Shikibu ums Jahr 1000 verfasste. Den darin beschriebene sozialen Umbruch spitzt Krasznahorkai auf subtile Weise zu. Der Enkel des Prinzen findet den schönsten Garten der Welt nicht. Er geht an ihm vorüber, "nur sein Blindsehen registrierte, dass da eben etwas gewesen war, etwas Uninteressantes, während er weiterging".
So geschieht es den meisten Glückssuchern. Glück offenbart sich im Unscheinbaren, nur sichtbar denen, die dafür ein waches, offenes Auge besitzen. Es gleicht dem Garten, der verborgen war durch seine Unscheinbarkeit: "die nicht mehr weiter zu verdichtende Konzentration der Schönheit, eine Zauberkraft der Schlichtheit".
Krasznahorkais entrückender Roman rettet uns freilich nicht in eine fremde mysteriöse Welt. Unterschwellig und beziehungsreich sind in ihm zeitgemäße Gegensätze angelegt. Im Norden ein Berg ist kein prosaisches Haiku, in dem Wort und Sinn zusammen fallen, sondern seinerseits eine (westliche) Projektion auf Japan. Auf dieser zweiten Ebene deutet Krasznahorkai, wie viel Geduld vonnöten ist, um sich der östlichen Geisteswelt überhaupt auch nur annähern zu können. Damit stellt er sich in Kontrast zu mittlerweile modischen Gewohnheiten. Feng Shui beispielsweise ist en vogue, nicht weil sich dessen Anhänger besonders geduldig damit auseinandersetzen, sondern weil sich so wohlfeil das eigene Unwohlbefinden rituell outsourcen lässt: ein kulturelles Post-it, das sich leicht wieder ablösen lässt. Bei Krasznahorkai dagegen zeigt sich die Auseinandersetzung mit Japan als langwieriger Prozess der behutsamen Annäherung. In dem Sinn ist sein Roman auch ein Gesellschaftsroman, der von einer eklatanten Differenz erzählen will, die sich nicht nur in Japan offenbart.
Laszlo Krasznahorkai: Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Ammann, Zürich 2005, 154 S., 18,90 EUR
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