Der Geschmack im Sein

Grenzgänge Stefan Weidner setzt sich mit den aktuellen kulturellen Strömungen in der islamischen Welt auseinander

Das kritische Nachdenken über die islamische Kultur ist politisch brisant. Es übersteigt die Barrikaden des modernen Kulturkampfs, indem es dessen tiefere Beweggründe zu erforschen versucht. In Deutschland stehen zurzeit vor allem zwei junge Autoren dafür ein: Navid Kermani und Stefan Weidner. Von letzterem liegt ein neues Buch unter dem Titel Mohammedanische Versuchungen vor. Der Titel ist ernst zu nehmen, denn Weidner verlor als 17-Jähriger sein Herz an die islamische Kultur. Auf seiner ersten, prägenden Reise durch Nordafrika im Sommer 1985 wurde er nach Schnell-Exerzitien von einem ehemaligen Mufti gar zum Muslim erklärt. Das anschließende Studium in Islamwissenschaften machte ihm freilich schnell klar, dass die Dinge komplizierter liegen.

Weidner, der sich als Autor und Übersetzer von Mahmoud Darwish und Adonis ausgezeichnet hat, kennt also die islamische Kultur. Doch auch er ist auf Reisen durch die arabischen Länder nicht vor Überraschungen gefeit. So hat er für sein Buch die Form des "erzählten Essay" gewählt, um der Reflexion wie der Verblüffung gerecht zu werden. Beides trifft unvermittelt im zweiten Hauptkapitel aufeinander. In einer Rede vor Kairoer Theologiestudenten reflektiert Weidner einen Satz des Mystikers Ibn Arabi: "Das Mögliche hat einen Geschmack im Sein."

Was derart übersetzt für uns Abendländer anregend und bedenkenswert klingt, verfehlt, so Weidner, den eigentlichen Sinn. Der Satz bedeutet präzis das Gegenteil: "Das Unmögliche hat einen Geschmack im Sein." Dieses paradoxe Verhältnis von wörtlicher und sinngemäßer Übersetzung resultiert aus dem arabischen "Wirklichkeitsbegriff, der wesentlich näher an der tatsächlichen psychischen Erfahrung ist als unserer". Steht bei uns das Mögliche in Relation zum physikalisch Wirklichen, so appelliert Ibn Arabi an ein Mögliches, das den Erfahrungsbereich, nicht den Tätigkeitsbereich des Menschen erweitert. "Ibn Arabi warnt ganz explizit davor, die tatsächliche sinnliche Wahrnehmung (nämlich der physikalischen Realität) mit der bloß in der Vorstellung erfahrenen Realität zu verwechseln". Demzufolge bleiben mystische und wissenschaftliche Wahrnehmung im arabischen Bewusstsein stärker aneinander gekoppelt als im abendländischen.

Das Beispiel markiert eine grundlegende Differenz in den kulturellen Dispositionen, die unvermittelt zum Missverständnis führen muss. Die Konfrontation mit der arabisch-islamischen Welt ist selbst für den kundigen Arabisten eine stete Herausforderung, besonders einschneidend da, wo diese Dispositionen in den politischen Diskurs einmünden wie in Weidners Gespräch mit seinen Zuhörern in Kairo. Einer von ihnen, der Intellektuelle Ibn Abi Kabsha, befürwortet den islamischen Fundamentalismus nicht als Ziel, sondern als Mittel, um die arabische Kultur antiwestlich zu impfen und damit ihrer Überlegenheit zum Durchbruch zu verhelfen. Wo sei der westliche Pioniergeist geblieben, fragt er, wenn dabei kein menschliches Opfer mehr riskiert würde. Die islamische Kultur nehme darauf keine Rücksicht. Die Bereitschaft zum Tod sei ihre Stärke, sie überwinde letztlich das westliche Zaudern. Samuel Huntington erhält hier eine Erwiderung aus umgedrehter Perspektive, wobei nicht zu verhehlen ist, dass beide ideologisch unterfütterten Positionen das einzelne Individuum als Geißel nehmen.

Die islamische Kultur ist in sich selbst jedoch gespalten, wobei die Trennlinien zuweilen überraschende Kehren vollziehen. Selbst unter den Orthodoxen, die den Koran als wörtliche Evokation des allwissenden Gottes anerkennen, herrschen gegensätzliche Ansichten. Sie sind so widersprüchlich wie dieses Wort Gottes selbst, das rational kaum zu verstehen ist. Während zahlreiche Islamisten trotzdem lautstark auf eine wortgetreue, also widersprüchliche Auslegung des Korans pochen, erhoben die Theologiestudenten, vor denen Weidner in Kairo sprach, vehementen Einspruch gegen jegliche Versuche, die koranischen Vorschriften "auf einen Nenner zu bringen" und als Handlungmaximen verstehen zu wollen. Dadurch werde Gottes Wort entwertet und verharmlost. Die Diskussion gipfelte in der beinah irreal anmutenden Aufforderung, "Hollywood" möge endlich den großen Mohammed-Film drehen, etwa mit Omar Sharif in der Hauptrolle, um den Muslims einen "lebensechten Mohammed" vorzuführen und so einem "post-mohammedanischen Islam" zum Durchbruch zu verhelfen.

Der Konflikt betrifft auch die gegenwärtig brisante Frage des Martyriums. Strich der Kairoer Intellektuelle die Todesbereitschaft der Muslims - notabene: aller Muslims - heraus, findet sich im Islam auch eine Ethik wie die des Säulenstehers Simeon, der das willentliche Martyrium ablehnt. Der Tod darf nur als Äußerstes erlitten, nicht aber (etwa durch Selbstmordaktionen) willentlich in Kauf genommen werden. Irgendwo zwischen den beiden Auslegungen verläuft die Grenze von Religion und Ideologie.

Stefan Weidners Begegnungen und Gespräche in Algerien, Syrien und Ägypten gleichen bisweilen einer halluzinativen Geisterbahnfahrt. Entsprechend findet auch er den geraden Weg nicht immer. Wiederholt ist seine Mittlerposition als Deutscher, der hellhörig ist für oft vernehmbare antisemitische Untertöne, und als Übersetzer, der mit der arabischen Sprache und Kultur vertraut ist, eine Quelle der Irritation. Dies macht die erzählerisch-essayistische Mischform gut spürbar. Allerdings verstärkt Weidner mitunter die Konfusion noch, etwa wenn er Gedanken nicht stringent zu Ende führt oder sich gewunden in Details verliert. Im Unterschied zur brillanten Rede über Ibn Arabi in Kairo bleiben die drei Vorträge in Aleppo, Algier und Annaba eigentümlich unfertige Gedankengebilde. Es mag zwar sein, dass sie die arabischen Gesprächspartner herauszufordern vermochten. Für abendländische Ohren indes bedürften die teils nur leicht skizzierten Positionen einer präziseren Bestimmung, damit die kulturelle Differenz nachvollziehbar würde.

Stefan Weidner: Mohammedanische Versuchungen. Ein erzählter Essay. Ammann, Zürich 2004. 240 S., 18,90 EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

Avatar

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden