Mit den ersten Sätzen in seinem ersten Buch zündet Thomas Melle ein metaphorisches Feuerwerk: "Ediths Wohnung hat Krebs, und die Metastasen treiben Plastikblumen, Goldherzen, Blumenkränze in die Ecken und Augenwinkel. Bunte Karzinome wuchern von allen Seiten in Richtung Fernseher. Wohin man auch sieht, es funkelt, blinkt, sendet." Die Botschaft ist offenkundig. Hier betritt ein ambitionierter Autor die literarische Bühne und will auf dieser wahrgenommen werden.
Der 1975 in Bonn geborene, in Berlin lebende Thomas Melle legt in dieser Eingangserzählung Santi Lucci ein rasantes Tempo vor. Die flackernde Beschreibung einer tristen Weihnachtsfeier fängt konzentriert eine verunglückende Konversation ein. Unter den Augen von Ediths Sohn Anton trifft sich die Familie, um ihre alten Missverständnisse zu pflegen. Der Junge versteht nichts, und versteht im tiefern Sinn doch alles: "Anton riecht die Sätze der Vorjahre überall. Sie sind staubig, aber sie sind scharf. Es scheint, als würden seine Mutter, seine Oma und die Tanten alles, was sie sagen, willentlich vergessen, nur um es dann wieder gerade so sagen zu können, als sei es neuartig und unerhört." Das Rituelle kittet das Familienfest am Rande des Nervenzusammenbruchs. "Santi Lucci" - was missverstanden für "Scientology" steht - fliegt ohne nähere Erklärungen wie ein schneidend blitzhafter Bilderbogen an uns vorüber, um am Ende von Anton abrupt angehalten zu werden: "Wartet nur, denkt Anton, bald. Und schläft ein, unter seinen Lidern, tschiho, ein Feuerwerk." Tschiho - still jetzt.
Die Reminiszenz an Goethes Wanderers Nachtlied - "warte nur, bald / ruhest auch du" - ist kein Zufall. Thomas Melle liebt das mal raffinierte, mal auch etwas konstruierte Spiel mit intertextuellen Bezügen. Novalis lässt in seinen Texten ebenso grüßen wie Laurie Anderson, Matrix oder Deleuze und Guattari mit ihren Rhizomen in der Erzählung Wuchernde Netze. Listig gibt Melle hierin gleich auch seinen Kritikern ein Zitat zur Hand: "Dennoch: Es hat etwas Manieristisches. Böswillige Kritiker wittern eine Masche." In einem Countdown von 5 bis 0, Lift-off, rechtfertigt ein Schriftsteller, weshalb er mit seiner Karriere ans Ende gekommen sei. Sein letztes Werk, eben diesen Text, wird er noch ins Internet stellen, dann das Messer ansetzen: "Performanz kippt um in Repräsentation, Leben in Tod in Ewigkeit." Das letzte Resümee beinhaltet einen kurzen Überblick über das eigene Schaffen, darunter den Roman Wuchernde Netze. Der Erzähler rühmt sich, lange vor Rainald Goetz als einer der ersten einen Weblog eingerichtet zu haben: "Peter Glaser etwa lobte es noch kürzlich in einer Fachzeitschrift". Mutmaßlich derselbe Peter Glaser, der auf dem Klappentext Melles Prosa in hohen Tönen lobt, was auch leises Unbehagen auslösen kann.
Wuchernde Netze hält selbstreferentiell die zwölf unterschiedlichen Erzählungen in diesem Band zusammen, indem sie Melle in einen größeren Zusammenhang setzt und so erklärende Hinweise für die Zweitlektüre gibt. Es finden sich darin einige "Twists", unvorhergesehene Wendungen, wie sie der Schriftsteller bereits 1977 in seinem Debütband Raumforderung "zugegebenermaßen etwas überstrapaziert" eingesetzt habe.
In diesem Spiel der Verweise steckt Kalkül und Raffinesse. Zugleich ist der dabei aufkommende Eindruck einer - wie zitiert - etwas überstrapazierten Konstruktion nicht ganz von der Hand zu weisen. Insbesondere, wenn Melle das wuchernde Beziehungsnetz wie in der umfangreichsten Geschichte Dinosaurier in Ägypten mit dem Wuchern von Krebs verbindet. Als Produkt der "poststrukturalistischen différance" und des Internets, das kraft seiner rhizomatischen Struktur "in mir den Krebs des Verstehens entfachte", lebt ein Erzähler zurückgezogen in der Charité seinen (irrsinnigen) Traum einer "intellectualen Anschauung" à la Novalis´ Lehrlingen zu Sais.
Thomas Melle richtet seine Texte mit großer Geste an, wofür er in den besten unter ihnen auch die entsprechende Sprache zur Verfügung hat. Die Irritation, die seine Texte immer wieder hervorrufen, bedeutet gelegentlich aber auch, dass die Rechnung des Autors nicht in allen Teilen aufgeht. So wunderbar die einen Geschichten sich lesen, so ratlos lassen einen andere zurück, ohne den Wunsch, darin weiter einer listigen Fährte nachspüren zu müssen.
Die Unordnung der Gefühle etwa in Interferenz wirkt artifiziell und mutwillig verfertigt. Und um den Twist in Das Kippy Game 1 zu verstehen, ist womöglich der eine und andere Wodka vonnöten, dem in diesem Band überhaupt gerne zugesprochen wird. Nicht selten lugen hinter dem intellektuellen Spiel mit Wucherungen und Vernetzungen altbekannte und entsprechend auch etwas fadenscheinige Topoi aus dem Umfeld "Entfremdung in der Großstadt" hervor, denen der letzte Dreh fehlt. Auch dies gehört zu diesem Buch, mit dem Thomas Melle trotz allem aber fulminant und Aufsehen erregend debütiert.
Thomas MelleRaumforderung. Erzählungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007. 204 S., 15,90 EUR
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