Die niederen Triebe

Charakterbildung Franzobel spürt in seinem Roman "Das Fest der Steine" dem frivolen Faschismus nach

Die alten Herren im österreichischen Parlament wissen sich hervorragend in Szene zu setzen. John Gudenus und Siegfried Kampl haben über Wochen die politische Debatte mit ihrer unverdrossenen Geschichtsblindheit geprägt. Parallel dazu tobt im Volkstheater ein Kampf um das ehemalige "Hitler-Zimmer", das hinter einem Vorhang unter Schutz gestellt ist und nicht für eine Thomas Bernhard-Aufführung benutzt werden darf.

"Frivolitäten" dieser Art sind für den Wiener Autor Franzobel ein Skandal. In seinem neuen Roman Das Fest der Steine setzt er sich in Gestalt von Oswald Mephistopheles Wuthenau, einem Kracher von einem Mannsbild, damit auseinander. Wuthenau ist "gelernter Antisemit". Nazisprüche der wüsten Art gehören bei ihm zum Vokabular. Er liebt es, damit zu provozieren, um seine Umgebung aus der Reserve zu locken. Manchmal aber zeigt er sich auch von einer scherzenden, gutmütigen Seite. Wuthenau, 1931 geboren und wenig später von der Mutter verstoßen, wuchs in der Obhut seiner Onkel heran. 1944 wurde er ein fescher Nazi-Bub, der mit seinen Kumpanen ein wenig herum randalierte.

1957 emigrierte er nach Argentinien, sein Glück zu suchen. Hier begegnete er unversehens wieder alten Bekannten: Querulanten und Eigenbrötlern, die Voodoo-Sekten gründen, die Nase in den eigenen Kot stecken oder zwanghaft ihren Namen auf jede Mauer kritzeln. Vor allem aber kreuzen immer wieder Nazis seine Wege, unter ihnen auch ein gewisser Ricardo Klement alias Eichmann. Um das "Nazinudelsuppenungetüm" Wuthenau ranken sich so Geschichten und Anekdoten, in denen Franzobel seinem skurrilen Witz, seiner barocken Zitierlust und seiner grobianischen Phantasie die Zügel schießen lässt. Der Mann läuft dabei zu großer Form auf.

Wie schon die vorangegangenen Bücher Scala Santa (2000) und Lusthaus (2002) ist der neue Roman eine sprachliche Lustbarkeit, worin es von schrillen Typen und schrägen Begebenheiten nur so wimmelt. Der Versuch einer ordnenden Inhaltsangabe muss schon im Ansatz scheitern. Einzig Wien und Buenos Aires sind als topographische Zentren zu bestimmen, metaphorisch korrespondiert mit ihnen die Körperzone unter der Gürtellinie. Es grummelt und brummt mächtig in diesem Roman. Franzobel stimuliert mit Vorliebe den Schließmuskel, der sich je nach Menschentypus mal verhärtet, mal allzu nachgiebig zeigt.

Eine kleine Typologie teilt die Menschen in Durchfall und Verstopfung ein, mit allen erdenklichen Folgen für ihren Alltag. In einem Geleitwort zum Buch des Unrats von John Gregory Bourke schrieb Sigmund Freud 1913: "Aus der Verdrängung der kokrophilen Neigungen entwickeln sich - oder verstärken sich - wichtige Beiträge zur Charakterbildung". Franzobel ist durchaus gewillt, diese verdrängte Seite kräftig aufzurühren, freilich nicht um ihrer selbst willen. Er will vielmehr demonstrieren, wie wichtig solche niederen Triebe für das gesellschaftliche Handeln sind. Franzobel befreit sie mit unbändiger Sprachlust aus der Verdrängung. "Die Ganzheit herstellen heißt all das Verbotene, Anrüchige mitbedenken", betont er.

Darin liegt der tiefere Sinn dieser leiblichen Erzählsphäre. Wir kennen sie aus Franzobels früheren Büchern. Allerdings zeichnet sich Das Fest der Steine darüber hinaus durch eine Nachdenklichkeit aus, die neu ist und von Kapitel zu Kapitel eindringlicher spürbar wird. Der Roman sprengt Grenzen in einer Weise, die schockiert und den Leser unwillkürlich fragen lässt: Darf man das? Dies betrifft insbesondere die titelgebende Schlüsselstelle: nach einer wilden Sexorgie wird ein Jude gesteinigt. Diese Szene ist von solch schauderhafter Wüstheit und Drastik, nicht zuletzt, weil es sich bei den Tätern um biedere Damen und Herren handelt, die sich triebhaft euphorisiert zu einem schändlichen Verbrechen hinreißen lassen.

Franzobel war darüber "beim Schreiben selbst schockiert", versichert er. Oft schriebe er Dinge, die ihn selbst überraschen würden. Unwillkürlich, unkontrolliert scheint in solchen Momenten ein tief liegender Ingrimm an die Oberfläche zu drängen. Im Buch heißt es einmal von Wuthenau: "die Demütigungen, die man als junger Mensch erlebt, vergisst man nicht. Niemals." Für Franzobel gehört jener frivole Faschismus, der mit launigen Sprüchen wie nebenbei beispielsweise auch den Holocaust entsorgt, mit zu solchen Demütigungen. Er wappnet sich dagegen, indem er schildert, was daraus erwachsen könnte. Dabei wird, dies ein Nebeneffekt, die Geschichte konsequent klein geschrieben und so ins Private verkehrt.

Im Roman äußert sich das in Form von Mikro-Episoden, die wie zufällig das große Weltgeschehen begleiten. Während Stalingrad fällt, kriegt ein Mädchen erstmals das "Huijxen" und fällt ein Motorrad in die Donau. Das mag albern anmuten, entspricht aber einer Realität, die unter poetischen Gesichtspunkten gültig ist, wie Franzobel in einem Gespräch betont: "Im Kleinen wird die Geschichte empfunden, tritt sie in die eigene Lebenswirklichkeit ein". Wuthenau steht exemplarisch dafür, wenn er dagegen rebelliert, dass sein Ordnungssystem gestört wird: "Schon das kleinste ungeordnete Detail konnte ihn aus der Fassung bringen, die geringste Kleinigkeit, die nicht funktionierte, bewirkte einen Wutanfall, so eine Angst vorm Chaos hatte er." In solchen Momenten kann vieles geschehen.

Die alltägliche Erfahrung ist stärker als die große Geschichte, aber auch weitgehend unbeeindruckt davon. Im Bewusstsein eines Wuthenau hat diese große Geschichte nichts zu schaffen mit den launigen Sprüchen im familiären Kreis, am Stammtisch und wo immer er seinen Antisemitismus ausposaunt. Die höchst ambivalente Figur Wuthenaus demonstriert freilich auch, dass es nicht einfach nur böse Menschen sind, die sich zu einem frivolen Faschismus hinreißen lassen.

Franzobel kennt die Wahrheit nicht, und er will sie auch nicht für sich beanspruchen: "Ich bin gegen jegliche Doktrin, gegen jegliche schlüssige, einzige Wahrheit", die zu wissen vorgibt, wie die Welt zu interpretieren und verstehen ist. In dem Sinn funkelt sein Roman in vielen Facetten - und lässt doch durchblicken, dass es ihm um mehr als um eine barocke Phantasterei geht. "Ich will eine andere Perspektive von der Welt zeigen - eine poetische Sicht und auf dieser Grundlage immer alles neu überprüfen", umreißt er sein ästhetisches Programm. Die historischen Verbrechen geraten ihm dabei nur scheinbar außer Acht, denn gerade schlechter Schlaf, üble Träume, Liebeskummer, Verdauungsstörungen, Potenzängste entwickeln unter Umständen ungeheure geschichtsbildende Kraft, wie Franzobel in der erwähnten Schlüsselszene mit hässlicher Drastik bedeutet.

Das Fest der Steine erzählt davon auf unnachahmliche und bei allem Gelächter respektvolle Weise. Unter der barocken Maskierung kenntlich wird dabei eine andere Frivolität: jene der Stammtischnudelnazis, die sich bis ins Wiener Parlament lauthals vernehmen lassen.

Franzobel: Das Fest der Steine oder Die Wunderkammer der Exzentrik. Roman. Zsolnay, Wien 2005. 650 S., 29,90 EUR


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Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

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