Wer es recht bedenkt, wird unweigerlich zum Resultat gelangen, dass sich die Spielleidenschaft zumindest finanziell nicht lohnt. Der Verlust wird im Endeffekt immer den Gewinn übersteigen. Dies wäre wohl abzuwägen, um sich gegen die Sucht zu wappnen, allein, wie sagte schon Aleksej Ivanovic: "Aber vorläufig, im Augenblick hatte ich dazu keine Zeit: ich mußte zum Roulett." So ging er hin und verspielte im Kasino der Stadt Roulettenburg sein schönes Geld, von dem er realiter ohnehin nicht allzu viel besaß.
Der Spieler, der Roman, in dem Ivanovic spielt, ist nicht Dostojewskis bester Roman. In der Selbsteinschätzung des Autors handelt es sich dabei um ein "unfertiges Buch", das im Herbst 1866 unter größtem Zeitdruck eiligst fertig geschrieben wurde. Die Vorauszahlung dafür war längst vertan. Gleich nach Erhalt hatte Dostojewski im Wiesbadener Kasino jene 3.000 Rubelchen verspielt, die ihm der Verleger Stellowski für die Rechte an seinem Werk ausbezahlt hatte mit der Zusatzbedingung, bis zum 1. November 1866 einen neuen Roman im Umfang von zehn Druckbogen abzuliefern.
Weil zuvor auch noch Verbrechen und Strafe zu vollenden war, machte sich Dostojewski erst kurz vor Abgabeschluss in fiebriger Hektik an das Diktat seines "Spieler"-Romans, um den Knebelvertrag doch noch zu erfüllen. Er engagierte sich dafür eigens eine Stenotypistin, Anna Grigorjewna, die wenig später seine zweite Frau werden und im Sommer 1867 mit ihm auf Europareise gehen sollte. Darüber führte sie ein minutiöses Tagebuch, das ein Jahrhundert später einem Moskauer Dostojewski-Liebhaber und Gelegenheitsschriftsteller die winterliche Zugreise von Moskau nach Leningrad verkürzen sollte. Dieser Reisende war auf der Suche nach dem alten Petersburger Glanz, am Ziel seiner Reise wollte er Dostojewskis letzte Wohnung - mittlerweile ein Museum - besuchen. In ihm, dem namenlosen Ich-Erzähler, ist unschwer der Autor Leonid Zypkin wiederzuerkennen, dessen Roman Ein Sommer in Baden-Baden die beiden ein Jahrhundert auseinanderliegenden Zugreisen mirakulös miteinander verknüpft. Zypkins Buch ist das Zeugnis einer tiefen Leidenschaft für Dostojewski - und was für eines!
Die Umstände seiner Überlieferung wären selbst eine Erzählung des Meisters wert. Leonid Zypkin (1926-1982), ein Moskauer Pathologe mit jüdischen Wurzeln, war in der Sowjetunion ein angesehener Forscher, dessen beruflicher Erfolg in frühen Jahren durch die antisemitische Hetze Stalins, später durch die politische Eiszeit der späten Siebzigerjahre behindert wurde. Als sein Sohn damals einen Ausreiseantrag stellte, wurden Zypkin und seine Frau in ihren Betrieben sogleich zurückgestuft respektive entlassen. Vor diesem Hintergrund wirkt verständlich, dass sich Zypkin nicht mit literarischen Veröffentlichungen einem zusätzlichem Verdacht aussetzen wollte. Erst eine Woche vor seinem Tod erschien Ein Sommer in Baden-Baden in der New Yorker Emigrantenzeitung Nowaja Gaseta - und war bald darauf wieder vergessen. Zypkins andere Werke blieben ohnehin ungedruckt.
Dieser Kontext ist relevant, weil es nicht alle Tage geschieht, dass derart unverhofft ein so zauberhaftes Buch neu zu entdecken ist. Schon gar nicht aus der Schreibmaschine eines Dilettanten im besten Wortsinn, eines Liebhabers, der für seine Leidenschaft eine eigene literarische Form gefunden hat. Ein Sommer in Baden-Baden ist ein ausgesprochen einfühlsames, feinnerviges Buch, das formale Perfektion beweist. In langen Satzschlaufen, die meist nur durch Gedankenstriche strukturiert werden, verklammert Zypkin darin verschiedenste Erzählebenen zu einem einzigen Gedanken-, genauer zu einem Lektürestrom. Der Erzähler sitzt im Zug nach Leningrad und liest in den Tagebüchern von Anna Grigorjewna Dostojewskaja, insbesondere die Sequenzen ihres Aufenthalts in Baden-Baden. Der Erzähler liest, schweift mit seinen Gedanken ab, erinnert sich an Stawrogin aus den Dämonen, den sich Dostojewski als Gegenbild auf den Leib geschrieben hatte, blickt aus dem Zugfenster in die nächtliche Landschaft, kehrt zum Tagebuch zurück...
Virtuos oszilliert Zypkins Roman zwischen diesen Erzählebenen, die sich gegenseitig aufladen, miteinander in Schwingung geraten und punktuell ineinander verschmelzen. Der meisterhaft mäandernde und sachte anschwellende Lektürestrom weist den Erzähler gewissermaßen als idealen Leser aus, der Emphase mit Analyse paart und so die Liebe zum Gegenstand mit dem profunden Wissen darüber ergänzt und um die eigene Erfahrung bereichert. Derart fängt er souverän auch den Verdacht auf Melodramatik und Pathos auf, der seinem traurigen Stoff innewohnt.
Der Sommer in Baden-Baden erwies sich als reine Qual. Dostojewski, unglücklich über den Spieler-Roman und über die finanziellen Nöte, forderte beim Roulett sein Glück heraus in der trügerischen Hoffnung, endlich zu Geld und Reichtum zu kommen. Zwar erwies er sich als gewiefter Spieler, der in einer Mischung aus Konzentration und Zahlenmagie häufig gewann - am Ende aber doch stets ohne Geld, dafür mit Schuldgefühlen und Tränen zu seiner Frau zurückkehrte, die ihrerseits die Sucht nicht hemmen konnte und auch den letzten Rubel noch herausrückte - zum eigenen Unglück. Das Eheleben kannte so nur seltene Glücksmomente, dann, wenn beide nachts vereinigt "hinausschwammen" und sich von der Strömung tragen ließen. Kitschverdacht hin oder her, Zypkins Metapher für das sexuelle Glück ist hinreißend schön.
Dostojewski pendelte zwischen Hochgefühl und tiefer Beschämung. Der Höhepunkt seiner Selbsterniedrigung aber war der Besuch bei Turgenjew, der damals ebenfalls in Baden-Baden, in einem feinen Hotel residierte. Dostojewski wollte ihn bei diesem Zusammentreffen um Geld angehen, die Bitte um Mildtätigkeit ging allerdings sogleich unter in der idealistischen Kluft zwischen diesen Gegenpolen der russischen Literatur: Turgenjew, der Westler und Dostojewski, der Slawophile waren sich in herzhafter Zwietracht verbunden. Aus Dostojewski brach es heraus: "Sie haben Russland niemals gekannt und verstanden" - worauf Turgenjew herablassend erwiderte, Russland besitze (mit den Arbeitslagern) "sehr wirksame Mittel, einen verbohrten Patriotismus anzuerziehen". In den Disput zwischen ihnen - einen der Höhepunkte des Romans - schmuggelt Zypkin unvermittelt zwei weitere Figuren ein: einen namenlosen bärtigen Slawophilen (gemeint ist Solschenizyn), der in den Westen flieht, sowie einen intellektuellen Westler (Sacharow), der sich nicht vertreiben lässt. Dieses "Paradoxon der Geschichte" verleiht den alten Disputen eine aktuelle Lesart, die unter heutigen Dispositionen neu zu verhandeln wäre. Die Orakelhaftigkeit Putins resultiert nicht zuletzt aus dessen Schwanken zwischen Westler- und Slawophilentum.
Im Kern von Zypkins Roman kristallisiert sich aber immer deutlicher ein anderes Paradox heraus. Gleich auf der zweiten Seite tauchen schon die "Jidden" auf, noch als Paraphrase aus Anna Grigorjewnas Tagebuch getarnt. Doch immer enger zieht Zypkin die Schlinge um diesen Plot bis hin zur entscheidenden Frage: "warum übte das Leben dieses Menschen, der mich und meinesgleichen verachtet hatte, eine so merkwürdige, verführerische Anziehungskraft auf mich aus?" Der Erzähler staunt darüber, dass jüdische Literaturwissenschaftler beinahe "das Monopol auf die Dostojewski-Forschung" haben. Liegt es an der ungeheuren "Sensibilität menschlichem Leid gegenüber", das gerade jüdische Leser an Dostojewski fasziniert? Eine schlüssige Antwort liefert Zypkin nicht, kennt er nicht: Er selbst ist in diesem Paradox gefangen.
Ein Sommer in Baden-Baden ist ein großartiges Kleinod der europäischen Literatur - für die Schublade geschrieben. Die wunderbare Einfühlungs- und Gestaltungkraft, die Leonid Zypkin darin beweist, stellt das gefällige literarische Biedermeier, das derzeit bei der deutschen Literaturkritik so hoch im Schwange ist, weit weit ins Abseits.
Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden. Roman. Mit einem Vorwort von Susan Sontag, übersetzt von Alfred Frank. Berlin, Berlin 2006, 238 S., 19,90 EUR
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