Tel Aviv irritiert aufs Entschiedenste. Angesichts der geopolitischen Lage damals wie heute mutet es geradezu eigenartig an, wie Katharina Hacker in ihrem bereits 1997 erschienenen Buch das Treiben und Lärmen in der israelischen Metropole "mit Biedermeiermöbeln" und komischen Sonderlingen ausstaffiert. Solche Poetisierung wirkt auf den ersten Blick unangemessen, doch reines Spiel ist sie nicht, wie die Erzählerin betont: "Von einem richtigen Satz hängt alles ab. Das ist eine Überzeugung, der man unbedingt anhängen muss." Derart eingefangen gleicht Tel Aviv einer Stadt irgend- und anderswo. Die wörtliche Übersetzung ihres Namens: "Hügel des Frühlings", scheint die Stadterzählung vordergründig stärker inspiriert zu haben als die vertrackten politischen Krisen, die Tel Aviv fast täglich in die Nachrichten bringen und so mitteilen, dass dies keine Stadt ist wie andere.
Wäre damit alles gesagt, lohnte es sich kaum, dieses Buch gerade heute neu zu lesen. Die politische Aktualität - der Refrain von der Zuspitzung der Lage in Palästina - verleiht ihm jedoch unwillkürlich einen doppelten Boden. In kurzen, mal anekdotischen, mal aphoristischen Textsplittern erzählt es von Menschen, die der Erzählerin persönlich begegnen: von Hannah, die sich einsam fühlt, nachdem sie und Jaron sich getrennt haben; von dem dicken Maler Wladimir, der nie malt; von Sarah und ihrem Café; und natürlich von der Erzählerin selbst, die die Stadt als Fremde kennen lernt und von ihr träumt. "Ich stelle mir vor, alle fangen mit einem Mal an zu schlafwandeln, in einer langen Reihe wie für eine Polonaise gehen sie hintereinanderher, in Schlafanzügen und Nachthemden wandeln sie durch die Straße, die Augen weit geöffnet, und sehen nichts."
Dieses abschließende "sehen nichts" unterläuft geschickt die an sich harmlose Vorstellung. Es deutet an, dass es unter der Oberfläche brodelt. Eine Schlüsselstelle dazu findet sich schon auf den ersten Seiten des Buches. Sarah sitzt in ihrem Café, zur Feier des Tages laufen gleich zwei Fernseher, die live die Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Jordanien (im Sommer 1994) übertragen. Doch niemand schaut hin. "Das Café ist leer. Frieden mit Jordanien. Sarah sieht sich um. Kommen sie denn nicht? Will keiner es sehen?"
Der "Nicht-Krieg" interessiert nicht. Die Umkehrung gilt ebenso. Mit vergleichbar stupender Routine wird auch der Krieg registriert: "Besorgt und mürrisch sitzt er über der Zeitung, ein Anschlag, schreiben sie. Zwei Tote." Solche Signale streut Katharina Hacker rund ein Dutzend Mal in ihren Text ein, damit sei von den Protagonisten ignoriert, hinweggedacht, verdrängt werden. "Denn es steht geschrieben", doziert ein Chassid in einer Traumszene, "dass man sich freuen soll. Warum steht es geschrieben? Da es keinen Grund zur Freude gibt, steht es geschrieben".
Hannah, Wladimir oder Sarah freuen sich nicht, vielmehr leiden sie an ihrer Einsamkeit. Das innere Unglück reicht ihnen vollauf, sie brauchen dafür keine geopolitischen Krisen. Doch es gibt die besagte Pflicht zur Freude, auch wenn sie negativ geerdet ist: Viele, die in Israel leben und sich hier plagen, können nicht so einfach weggehen wie es die Erzählerin aus Deutschland vermöchte. Vor dem Hintergrund ihrer Flucht- und Einwanderergeschichten haben sie keine Alternative. Sie sind gefangen in dem auferlegten "Pathos der Erinnerung, Pathos der Nation: Die Wüste zum Blühen bringen".
Indem Katharina Hacker ihre manchmal etwas allzu pittoresken Alltagsfantasien und -beobachtungen immer wieder diskret auf diese politische Realität zurückspiegelt, macht sie das grausame Dilemma deutlich, das die aktuelle Bedrohung durch Raketen und der Waffengang der israelischen Armee im südlichen Libanon und im Gaza-Streifen von neuem auslösen müssen. "Es gibt hier keine dramatische Lösung, hier noch weniger als anderswo. Die Toten in den Autobussen, die Verletzten; sie müssen nicht verschwiegen werden. Aber wir, wir leben. Und die Katastrophen geschehen weiter."
Dies schrieb sie Mitte der 1990er Jahre. Zehn Jahre später geht der Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn in eine weitere Runde. Einmal mehr muss sich der Wunsch nach einem ganz normalen Leben gegen die Übermacht der schlechten Nachrichten erwehren. Doch dringlicher denn je stellen sich Fragen: Wie lange hält dies eine Gesellschaft aus? Und haben nicht auch die Nachbarn ein Anrecht auf ein solches normales Leben?
Katharina Hacker: Tel Aviv. Eine Stadterzählung. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, 146 S., 8 EUR
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