Die einen wissen nichts.
Die andern verstehen das,
was sie wissen, nicht.
(Ludwig Hohl)
Es herrscht Erleichterung in Bildungskreisen. Deutschland liegt im Ranking der vor kurzem erschienenen dritten Pisa-Studie im vordersten Mittelfeld: auf Rang 13.* Gegenüber der Vergleichsstudie von 2003 bedeutet das ein Plus von fünf Rängen, was mit einem hörbaren Aufatmen quittiert wird - auch wenn die beiden Tests gar nicht vergleichbar sind. Hauptsache es herrscht Aufschwung, und der beginnt bekanntlich im Kopf.
Die jüngste PISA-Studie ist schwerpunktmäßig den Naturwissenschaften gewidmet, der Fähigkeit also: "naturwissenschaftliches Wissen anzuwenden, um Fragestellungen zu erkennen, sich neues Wissen anzueignen, naturwissenschaftliche Phänomene zu beschreiben und aus Belegen Schlussfolgerungen zu ziehen". Damit hegt die Studie ähnliche Ziele, wie sie Politik und Wirtschaft unisono äußern: Die moderne Gesellschaft braucht Wissen, um die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Sehr richtig - und dennoch: Birgt die Fähigkeit, geläufige Fragen zu erkennen und bestehendes Wissen zielgerichtet anzuwenden, nicht auch die Gefahr, dass übersehen wird, was nicht ins herrschende Wissenskonzept passt? Schon im vorletzten Jahrhundert schrieb der Physiker Hermann von Helmholtz: "Wer in den Naturwissenschaften nach unmittelbarem Nutzen jagt, kann ziemlich sicher sein, dass er vergebens jagen wird."
"Es ist schwer, sich am Anfang eines neuen Milleniums nicht von der Vorstellung faszinieren zu lassen, dass wir in ein aufregendes neues Universum menschlicher Möglichkeiten katapultiert werden", schrieb der Kunsthistoriker William J.T. Mitchell. Die neuen Medien und die digitalen Technologien verführen mit ihrer Suggestivkraft und heben die Grenzen des Wissens scheinbar auf. Angesichts von Wikipedia und Google wirkt die sokratische Erkenntnisformel "Ich weiß, dass ich nichts weiß" geradezu altbacken - ein philosophisches Bonmot aus vergangenen Tagen. Wenn wir den schicken Trendscouts glauben wollen, geht die Jagd nach Information und Wissen erst richtig los, denn Wissen und Information sind Geld. Dem haben sich längst auch die Bildungspolitiker angeschlossen. Mit ihnen stehen wir am Anfang der "Wissensgesellschaft", in der das Wissen zum Generalrezept gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung erklärt wird.
Der Kreis des Wissens
Wissen umschrieb der Soziologe Max Weber einst als Glauben daran, dass wir vernunftmäßig die "geheimnisvollen unberechenbaren Mächte" bannen und "alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen beherrschen" können. Um damit effizient zum Ziel zu kommen, wird heutzutage ein "Wissensmanagement" eingesetzt, das die Informationsflüsse regelt und das hierarchisch strukturierte Wissen stabilisiert, damit es operativ, strategisch und normativ nutzbar gemacht werden kann. Derlei ist umso wichtiger, weil sich Wissen schneller denn je verändert, durch stetig neue Erkenntnisse konkurrenziert und aufgehoben wird. Einfach nur zu wissen, taugt immer weniger.
Angesichts der stetig steigenden Menge an Wissen(swertem) verheißen auch jene Bücher längst keinen Halt mehr, die sich einst namentlich dem ganzen, enzyklopädischen Wissen verschrieben haben. Mit seiner "Encyclopédie" verfolgte der ingeniöse Denis Diderot vor 250 Jahren die Absicht, "ein allgemeines Bild von den Leistungen des menschlichen Geistes auf allen Gebieten und in allen Jahrhunderten zu geben" und "die Gegenstände klar darzustellen", auf dass sie Laien ebenso wie Fachleuten nützlich sei.
Die Welt verstehbar zu machen hieß für ihn, die dafür notwendigen Instrumente bereit zu stellen. Diesbezüglich decken sich seine Ziele mit denen der PISA-Studie. "Der Mensch ist dazu geboren, selbständig zu denken", war Diderot überzeugt. Mit seinem Werk wollte er dazu beitragen, dass "die allgemeine Bildung so schnell fortschreiten (möge), dass sich in zwanzig Jahren auf tausend unserer Seiten kaum noch eine Zeile findet, die nicht etwas allgemein Bekanntes sagt".
Doch Bildung und Vernunft, war sich der scharfsinnige Aufklärer bewusst, würden alleine nicht genügen. Unter dem programmatischen Stichwort "Enzyklopädie" erweiterte er den Horizont des Wissens: "So schreiten der Schriftsteller, der Gelehrte der Künstler in der Finsternis vorwärts. Wenn sie irgendwelche Fortschritte machen, verdanken sie dies dem Zufall; sie gelangen zum Ziel wie ein verirrter Wanderer, der den richtigen Weg geht, ohne dies zu wissen." Wissenschaftler und Künstler gehen gemeinsame Wege, im Vertrauen auf zufällige Fantasie und flüchtige Imagination. Diderot erteilte der Vernunft damit keineswegs eine Absage, er hielt an der Utopie des ganzen Wissens fest, nur setzte er dieses nicht absolut: Man muss "die Menschen [auch] das Zweifeln Abwarten lehren".
Die Erkenntniskraft des Märchens
Zeitgleich mit Diderot prägte 1754 ein englischer Schriftstellerkollege ein Wort, das diese Ambivalenz des Wissens auf den Begriff brachte: Serendipity. In einem Brief an seinen Freund Horace Mann schrieb der Schauerromantiker Horace Walpole - der Erfinder der Gothic-Novel und des englischen Landschaftsgartens:
"Mit Hilfe des Talismans treffe ich alles à pointe nommée, wo immer ich danach greife. Diese Entdeckung ist beinahe von der Art, die ich Serendipity nenne. Das ist ein sehr ausdrucksstarkes Wort, das ich Dir, da ich nichts Besseres zu erzählen habe, zu erklären versuchen will: Du wirst das Wort aus seiner Ableitung leichter verstehen als durch eine Begriffsbestimmung. Ich habe einmal ein närrisches Feenmärchen gelesen, das hieß: Die drei Prinzen von Serendip. Dort machten Ihre Königlichen Hoheiten, während sie auf Reisen waren, immerfort Entdeckungen durch Zufälle und Scharfsinn, und das an Gegenständen, nach denen sie gar nicht gesucht haben."
Serendipity ist das Zauberwort, mit dem das Reich der lichten Imagination und der kreativen Fantasie aufgeschlossen und mit ihnen die Mechanik der engstirnigen instrumentellen Vernunft in Frage gestellt wird. Diesem Serendipity-Prinzip verdankt sich eine vielfältige Reihe von Entdeckungen in den Bereichen Medizin, Biologie, Ethnologie, Astronomie, Chemie oder Physik, die weniger durch gewissenhafte Empirie als durch Findungen aufgrund von "Zufällen und Scharfsinn" zustande kamen. So war es beispielsweise eine verunreinigte, also unbrauchbare Schimmelpilzkultur, die der Chemiker Alexander Fleming 1928 zum Anlass für die Entdeckung des Penicillins nutzte.
Aufgrund solcher Vorgänge prägte der Wissenschaftssoziologe Robert K. Merton 1949 den Begriff des "Serendipity Pattern" (Serendipitätsmuster) für "unvorhergesehene, anomale und strategische" Entdeckungen, die zu einer neuen Theorie drängen. Spätestens seit dieser Begriffsklärung durch Merton ist Serendipity zum anerkannten Begriff avanciert. Gary Fine und James Deegan definieren ihn im programmatisch betitelten Aufsatz "Three Principles of Serendip" als "Kern der Philosophie von qualitativer Forschung". In ihrer Konklusion schreiben sie:
"Ein Forscher, der bereit ist, Fehler zu produzieren, unbekannte Wege zu gehen und dem Zufall zu vertrauen, riskiert seinen Ruf als Wissenschaftler. Dieser Ruf ist noch immer verbunden mit der Vorstellung des hervorragenden Genius. Dabei wird außer Acht gelassen, dass diese Vorstellung in der wissenschaftlichen Community nicht mehr wirklich geglaubt, sondern bloß vorgespielt wird. (...) Jeder Forscher muss bereit sein, die Fingerzeige auf dem Weg des Entdeckens zu erkennen. Wir müssen die ganze Fülle der Serendipity-Zeichen in Betracht ziehen, genau so wie es die alten Prinzen von Serendip taten."
Wissenschaft und Vernunftglaube beruhen auf logischer Durchdringung und auf objektiven Wahrheiten. Der Begriff "Serendipity" weicht diese harte Gesetzgebung auf, er bestimmt das Suchen und Finden als einen Prozess, der vom Zufall einerseits und von der persönlichen Kreativität andererseits wesentlich mitgesteuert wird.
Bei genauerem Hinsehen hatte selbst der Übervater des Positivismus August Comte diesbezüglich ein Einsehen. Das naturwissenschaftliche Modell habe ihm nicht genügt, schreibt der Soziologe Felix Keller, um die Gesellschaft und ihren Wandel hinreichend erklären zu können: "Comte musste auf eine andere Erzählung zurückgreifen, um seine Vorstellung von Gesellschaft zu schildern. Er hat dies getan, indem er auf das utopische Denk- und Erzählvermögen zurückgriff."
Zumindest implizit verweist Comte selbst so auf das Serendipity-Prinzip, in dessen Kern die Erzählbarkeit steckt. Die Leistung der drei Märchenprinzen von Serendip liegt im Mut begründet, dass sie verstreute Zeichen am Wegesrand zu einer zusammenhängenden Erzählung zusammenfügten und sie so interpretierten, als seien sie harmonisch miteinander verbunden.
Das "Element der Willkür (...) hat einen bedeutenden Einfluss auf die wissenschaftliche Entwicklung", schrieb der Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn. Um dieses Element aber effektiv zu nutzen, muss ein Interpret die scheinbar willkürlichen Zeichen als "eine kohärente Sequenz, als einen Text" zusammenlesen, ergänzt Umberto Eco. Wenn wir die Welt nicht mehr verstehen, versuchen wir sie uns zu erzählen und auf diesem Weg überhaupt begreiflich zu machen. Dabei verlassen wir die Wege der gestrengen Logik und geraten in eine "unendliche Abdrift des Sinnes", so Eco, die den linearen Denkwegen die Verschlungenheit der Welterkenntnis entgegen hält. Nicht selten treffen wir exakt hierbei auf den Kern der Sache, hauen wir den gordischen Knoten durch.
Ich suche nicht, ich finde, soll Picasso gesagt haben. Was einesteils nach altmodischem Geniekult klingt, kann unter serendipitöser Perspektive das Wirken des Zufalls bezeugen. Dabei kommt es allerdings auf die Disposition des Findenden an, denn, so ein Wort von Aldous Huxley: "Erfahrung ist nicht, was einem geschieht, Erfahrung ist, was wir damit machen, was uns geschieht".
Der Weg in die Irre
Wissenschaftliche Ordnungen neigen dazu, sich gegen außen geheimbündlerisch abzuschließen und den eigenen Erkenntnisweg absolut zu setzen. Damit werden sie unfrei, mit dem Effekt: What you get is what you expect or you hope. Wie sehr dieser Mechanismus in die Irre führen kann, demonstrierte vor ein paar Jahren der gut dokumentierte Fall des umjubelten Physikergenies Jan Hendrik Schön.
Einem Fachkollegen war - zufälligerweise - aufgefallen, dass sich in Schöns Forschungsarbeiten mehrfach auffallend ähnliche Diagramme wiederfanden, mit denen er seine sensationellen empirischen Erkenntnisse bildhaft untermauerte. Was zuerst nur ähnlich wirkte, erwies sich bald als Identität. Schön hatte in unterschiedlichsten Kontexten dieselben, lediglich im Achsenwert leicht variierten Diagramme eingesetzt. Die Entdeckung war ein Skandal, erzielte Schön doch mit seinen Arbeiten exakt jene Resultate, die sich die Forschung so dringlich und sehnlich herbeiwünschte. Nach der Entdeckung des Betrugs schlug die Freude sogleich in enttäuschtes Entsetzen um, ohne dass man sich in der Forschergemeinde weiter mit den tiefern Ursachen des Betrugs auseinandergesetzt hätte. Still und heimlich verschwand der Betrüger von der Bildfläche, aller Titel und Ehren enthoben. Deshalb bleibt nach wie vor ungeklärt, ob Schön überhaupt betrogen hat, oder ob er nicht vielleicht von der Muse Serendipity geküsst worden ist. Wenn es sich so verhalten hätte, wäre dieses Genie daran gescheitert, dass er seine sagenhaften Erkenntnisse gegenüber den kleingeistigen Berufskollegen auf herkömmliche Weise beglaubigen wollte, damit sie ihn verstehen. Das Genie als Opfer empirischer Engstirnigkeit?
Louis Pasteurs Diktum: "Auf dem Feld der Beobachtung begünstigt das Glück nur den bereiten Geist", ist leichter gesagt als umgesetzt. Auch dies ist ein Kennzeichen von Serendipity. Wer immer in serendipitöser Art vorgeht, wird zuerst auf Zweifel stoßen, denn die instrumentelle Vernunft ist stärker, weil sie eine festgefügte Ordnung verspricht, die nie leichtfertig preisgegeben wird. Im Stück Leben des Galilei stellt Brecht diesen Sachverhalt trefflich dar. Galilei möchte den Abgesandten der Universität seine Erkenntnisse beweisen, indem er sie einen Blick durchs Fernrohr tun lässt. Diese aber lassen sich nicht auf den Augenschein ein. Das Weltbild des Aristoteles "ist ein Gebäude von solcher Ordnung und Schönheit, daß wir wohl zögern sollten, diese Harmonie zu stören", wenden sie ein. Das schöne Bild, die tradierte Erzählung: also der ptolemäische Kosmos mit seinen komplizierten Bewegungsgesetzen, dies alles durfte nicht zerstört werden.
Serendipity lockert die Vernunft und lässt den Zufall, das Glück, die Imagination in die positivistische Methode ein. Dergestalt gleicht Serendipity eher der Kunst als der strengen Wissenschaft. Entsprechend spielen künstlerische Strategien gerne mit serendipitösen Zufällen und Abdriften, beispielsweise der "Encyclopaedizer" (www.encyclopaedizer.net), eine Lexikonmaschine im Internet, die automatisch Erkenntnisse zwischen Dada und Genialität erzeugt.
Leicht ließe sich daraus ein Argumentarium entwickeln, das in der heutigen Bildungspolitik eher verdrängt wird: Die Förderung von Fantasie und Imagination bringt das naturwissenschaftliche Verständnis womöglich besser voran als die Vermittlung von normativem Wissen, das lediglich die Vergangenheit in die Zukunft projiziert. Zufall und Scharfsinn, das heißt auch Kreativität und Lust an der Erkenntnis rufen neues Wissen hervor, das nicht nur technischen und ökonomischen Kriterien genügt. Doch Politik und Wirtschaft setzen sich weiterhin vordringlich dafür ein, dass die instrumentelle Vernunft in der Bildungspolitik den Primat über die kreative Vernunft behält. Welcher Zufall, welche glückliche Fügung wird uns davon erlösen?
* http://pisa.ipn.uni-kiel.de
Beat Mazenauer, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker, freier Autor, Konzepter und Netzwerker in Luzern. Er ist Generalsekretär des Schweizer Kulturministers (www.kulturministerium. ch) und gehört zu den Initiatoren der Virtuellen Bibliothek (www.readme. cc.).
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.