Das Unternehmen ist im Grunde eine Anmaßung. Für die Lektüre seines rund 3.500 Seiten starken Romanzyklus fordert der 1951 geborene Adri van der Heijden dem Lesepublikum viel Geduld und Lebenszeit ab. Van der Heijden (ver)dichtet nicht, er erzählt lieber in epischer Breite. Unter seiner Hand hat alles mit allem zu tun. Vergangenheit und Zukunft treffen sich auf dem schmalen Grat des Gerade-Jetzt, auf dem der Protagonist Albert Egberts die Balance zu halten versucht. Vordergründig mag das dessen Lebenskonzept geschuldet sein. Er erträumt sich ein "Leben in die Breite", das nicht darauf warten will, bis sich alle Ereignisse auf dem Strang der Zeit aufgereiht haben. Doch Ängstlichkeit, Fatalismus und Passivität bewirken, dass ihn diese Vision eher in einen "Abgrund des Nicht-Passierten" steuert, von wo dem unfreiwilligen Helden indes auch in elendester Abhängigkeit noch eine verräterische Perspektive von unten gelingt.
Im Prologband Die Schlacht um die Blaubrücke begegnen wir ihm am 30. April 1980, seinem 30. Geburtstag. Heroinsüchtig strolcht er durch die Straßen Amsterdams, sein Weg kreuzt die Scharmützel, die sich zu Ehren des "Königinnentags" zwischen Demonstranten und Polizei abspielen. Der Band beschränkt sich auf die Beschreibung dieses einen Tages. Auf verblüffende Weise demonstriert van der Heijden darin sein erzählerisches Vermögen. Immer wieder schiebt er die Handlung mit Erinnerungen an die Kindheit und Jugendzeit Alberts auf, ohne dem Beschreibungsstrom seine Integrität oder seine Spannung zu nehmen. Albert sucht nach einem Ding, dessen sich sein Autor als zentrales Leitmotiv für den ganzen Romanzyklus bedient hat: einer Schere, genauer eine Fiskaers Deluxe. Mit ihrer Hilfe knackt Albert Autos.
Die Schere ist Alberts Lebensmetapher, "ein zweischneidiges Messer, das sich beim Schneiden aufhebt und so seine eigene Scheide bildet ... Die beiden Spitzen des Lebens, Vergangenheit und Zukunft berühren sich - nahtlos - im Jetzt." Geschlossen heben sie sich auf, doch wird die Schere aufgespreizt, fallen die beiden Zeiten auseinander - und schneiden.
Die Schere hält aber auch den gesamten Zyklus zusammen, in seiner Zeitstruktur bildet sich ihre V-Form ab. Wenn Alberts Finger im Prologband die eine Schneide bis zum Kreuzpunkt hinabtastet, reist er in der Erinnerung zurück an die Lebensgabelung, aus der er hervorgegangen ist. Diesen Weg beschreiben die Bände eins und zwei der "zahnlosen Zeit". Fallende Eltern führt uns zurück in die Studienzeit in Nimwegen und weiter zurück nach Geldorp. Der Vater säuft, die Mutter putzt bei den Schwantjes, mit deren Sohn Theo sich Albert anfreundet. Die großbürgerliche Lebensart der Schwantjes steigert den Groll und die Scham gegenüber dem Mief bei sich zuhause. So haut Albert gleich nach dem Abitur ab nach Nimwegen, um Philosophie zu studieren und mit Theo ein ausschweifendes Bohèmeleben anzufangen. Er will sich von den alten Verkrustungen befreien, stattdessen beginnt ein langer unaufhaltsamer Absturz.
Der zweite Band Das Gefahrendreieck setzt nochmals in Nimwegen an, um retrospektiv hinter den ersten Band zurück zu blenden in jenes traurige Geländedreieck zwischen Kanal, Bahnlinie und Straße, wo Albert schüchtern an Flix´ Tierquälereien oder am "Schweingeln"-Spiel mit den Mädchen teilnahm. Im Schlussbild des Prologbandes gleitet sein Finger vom Kreuzpunkt auf der andern Seite wieder hoch: die Bände drei und vier, die von Alberts Amsterdamer Zeit erzählen. Die mütterliche Erziehung zur Mutlosigkeit und Vaters Besäufnisse haben den jungen Albert zur Passivität erzogen. Diese Ängstlichkeit und Willenlosigkeit wird er nicht loswerden. "Am liebsten sollte die Zeit zahnlos an mir vorüberziehen", wünscht sich Albert.
Die Spiegelung im Scherenkreuz demonstriert, wie sich Beschreibung und Symbolik in diesem Romanwerk zu einem prallen, phänomenalen Erzählkosmos übereinander legen, dessen Teile figurativ und motivisch eng miteinander verzahnt und dennoch je einzeln lesbar sind. Dem Scherentag im April 1980 korrespondiert die "Schneenacht" im September 1977, das Epizentrum des dritten Bandes. Albert und seine Freunde haben ein Jahr zuvor die Provinz ihrer Kindheit endgültig hinter sich gelassen und sind in Amsterdam angekommen.
Thjum spielt die Rolle des "Heutigen" in Frischs Die Chinesische Mauer. Flix will mit hyperrealistischen Skulpturen den Moment des Todes, das letzte Jetzt eines Menschen, einfangen. Albert hat sein Philosophiestudium sausen lassen, um das Leben in die Breite zu stauen. Den zeitlich präzis bezeichneten Kapiteln sind je eine Erzählstimme zugeordnet, die sich chorisch zu einem kraftvollen Bewusstseinsstrom mischen.
Amsterdam erlebt in jenen Jahren eine neue Blütezeit, die anders als im "goldenen Amsterdam" des 17. Jahrhunderts weniger auf protestantische Tugend, denn auf subkulturellen Aufbruch gründet. Sexuelle Befreiung, Drogenrausch und alternative Kulturszenen sind der Grund, auf dem die Freunde mit dem "eigenen Leben experimentieren". Unter dem Pflaster, das sie aufreißen, öffnet sich allerdings kein Strand wie in Paris 1968, sondern ein Sumpf, in dem die drei zu versinken drohen. Ihre Lebensversuche verausgaben sich im Rausch. Alberts Heroismus stürzt in ein sinnloses "Martyrium", aus dem ihn nur eine symbolische Tat herauslocken würde, wie er meint. Er nimmt sich vor, den Neonazi Arendt-Jan Baartscheer anzuschießen. Diese Tat würde seinem Martyrium Sinn verleihen. Zudem könnte er im Knast endlich vom Heroin loskommen.
Die Tat sowie die daraus resultierende Gefängnisstrafe beruhigen Albert. Endlich findet er jene Geduld zum Schreiben, die er sich schon immer gewünscht hat. Deshalb rückt sein Anwalt Ernst Quispel ins Zentrum des Buches. Quispel ist Dipsomane, alljährlich taucht er einmal ab in eine Phase völliger Besoffenheit, aus der er verkatert und geläutert nach zwei, drei Wochen wieder auftaucht. Ausgerechnet während einer solchen Phase 1985 stürmt die Polizei ein von Punks besetztes ehemaliges Untersuchungsgefängnis. Quispel ist der Anwalt dieser "Hahnenkämme", zugleich besoffener Zeuge eines Todesfalls in U-Haft. Erst allmählich vermag er zu erinnern, was er eigentlich gesehen hat. Mit Quispels Ernüchterung schließt der Zyklus.
Die zahnlose Zeit ist eine epochale Sittengeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Helga van Beuningen ebenso kongenial wie brillant ins Deutsche übertragen hat. Sie ist eine Anmaßung auch in dem Sinn, dass van der Heijden hier Maß nimmt an den Erfahrungen einer Generation, die er in einem ebenso kompromisslos düsteren wie mitfühlenden, symbolisch aufgeladenen Lebenspanorama darstellt. Albert und seine Freunde debattieren fortwährend über den Sinn des Lebens und flüchten sich in Kopulations- und Drogenexzesse. Der Wille zur Tat wird in Schach gehalten von der Lust, sich treiben zu lassen. Als Flix mit seinem absoluten Werk daraus ausbricht, endet es in der Katastrophe.
Van der Heijden kleidet dieses moderne Pandämonium mit einem metaphorischen Realismus aus, der sich durch sinnliche Opulenz und eine Sprachgewalt ohnegleichen auszeichnet. Zwar könnte das nicht eben zurückhaltende "sexuelle Gedöns" Missfallen erregen, die luzide Ungeschminktheit der Beschreibung indes nimmt ihm das Anstößige, ohne es zu entschärfen.
Ein Zyklus wie dieser provoziert zwangsläufig den Vorwurf von Überfülle und Abschweifung. Derlei wurde auch schon gegenüber Balzac, Proust oder Joyce laut. So ausufernd manche Passagen wirken, van der Heijden gelingt es jederzeit, sie aufzuheben im Fortgang der Reflexion oder in der verzögerten Handlung. Die unübersehbare Fülle an intertextuellen Referenzen gibt immer wieder überraschende Perspektiven, gedankliche Verknüpfungen und figurative Bezüge preis, die den einzelnen Moment, die isolierte Passage einbetten in eine epische, doch gebrochene Gesamtstruktur. Im Gegensatz zu Flix weiß van der Heijden um die Unmöglichkeit, das Leben künstlich einfrieren zu können, es sei denn in einem vielstimmigen Chor wie diesem.
Dergestalt ist dieser Romanzyklus eine wahrhaft große Erzählung über Gott und die Welt, über Leben und Tod. Minutiös zeichnet sie am Beispiel ihres Figurenensembles um den "Jetzigen" Albert Egberts die Phasen der Auflehnung, der Befreiung und des Exzesses nach, bis alles in erstarrte Zwangsrituale vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Stagnation Anfangs der achtziger Jahre einmündet. Die traumatische Kriegsvergangenheit ihrer Eltern wollten die Jungen überwinden, nur um selbst auf einer höheren Stufe des Kreisels wieder am selben Ort anzukommen: Gefangene in Ritualen ohne Sinn und Geheimnis.
Bei der Reise dieses Sinnsuchers auf der Reise durch die finstern Wälder der Lebensfurcht zum befreienden Gral brauchen die Leser und Leserinnen keine Drogen, bloß etwas Geduld, Durchhaltewillen und vielleicht einen Kaffee. Wer dies aufbringt für diese epische Albertiade, wird sich den Enthusiasmus des Protagonisten erlesen. Als Motto ist einem Teilband ein Sartre-Zitat vorangestellt: "J´ai mené une vie edentée". So empfindet es auch Albert. Als Kind zahnloser Eltern hat er ein zahnloses Leben geführt - doch mit welcher Konsequenz und Grandiosität!
Adrianus Fr. Th. Van der Heijden: Die zahnlose Zeit. Romanzyklus in 7 Bänden. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, Kassette, 128 EUR
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