Wir Bewohner des reichen Nordens handeln längst in globalen Dimensionen. Dagegen hilft keine Kritik und kein Widerstand. Wenn sich Globalisierungsgegner in Seattle, Porto Alegre oder Mumbai treffen, so ist auch dies ein Effekt der Globalisierung. Die Frage ist also nicht, ob es Globalisierung geben soll, sondern, wie sich dieses Versprechen der Ökonomen, Politiker und Technokraten einlösen lässt, damit nicht nur das Großkapital, sondern alle Menschen davon profitieren. Die Frage lautet: Wie schaffen wir einen fairen, wirklich weltumspannenden Zusammenhalt, der für alle den Wohlstand mehrt, die Sicherheit erhöht und das drohende ökologische Desaster verhindert. Über diese Frage denkt der renommierte Ökonom Joseph Stiglitz seit Jahren nach, wie sein jüngstes Buch Die Chancen der Globalisierung (Making Globalization Work) abermals bezeugt.
"Engagierte und gebildete Bürger wissen, was man tun muss, damit die Globalisierung allen Menschen oder doch weit mehr Menschen als heute zugute kommt, und sie können verlangen, dass ihre Regierungen entsprechende Rahmenbedingungen für die Globalisierung schaffen", heißt es darin. Wer sich umhört, vernimmt freilich andere Signale. Auch die gebildeten Stände neigen hierzulande dazu, lokale Anliegen höher zu gewichten als globale. Allzu gerne wird die eigene Verlässlichkeit mit dem Schlendrian andernorts verglichen, um sich selbst zu nobilitieren und das eigene Wohlergehen zu rechtfertigen. Nur unterschwellig schwingt in diesem Diskurs der Besseren die verborgene Angst vor Arbeitslosigkeit oder Asylantenflut mit, worin sich wenigstens insgeheim das globale Bewusstsein kristallisiert.
Joseph Stiglitz exponiert sich seit Jahren als profunder Kritiker der Globalisierung. Ein Revolutionär freilich ist er keiner, dazu taugt allein schon sein Werdegang nicht. Bevor er 2001 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften zuerkannt erhielt, war er Sachverständiger für Wirtschaftsfragen bei US-Präsident Clinton sowie Vizepräsident bei der Weltbank. Stiglitz gehört also zu den Insidern. Umso stärker beeindruckt, mit welcher Schärfe er den gegenwärtigen Stand der Globalisierung analysiert und die flauschigen Anpreisungen der Marktideologen zerzaust und verwirft. Im Anschluss an sein Buch über die Schatten der Globalisierung (Freitag 16/2002) legt er hier freilich nicht einfach den Schalter um, um die positiven Seiten mit verhaltenem Optimismus zu beleuchten. Dafür ist das Thema zu komplex. Die Chancen lassen sich nur erörtern, wenn vorab die Schwächen offen gelegt werden. Unter der Prämisse "Eine andere Welt ist möglich" setzt er so nochmals detailliert und methodisch bei den Debakeln und Ungerechtigkeiten des bestehenden Systems an. "Der Globalisierung war es gelungen, Menschen aus der ganzen Welt gegen die Globalisierung zusammenzuschmieden." Wie konnte es soweit kommen, wo die Globalisierung doch eine bessere Welt für alle verspricht?
"Es ist schon schlimm genug, dass die Entwicklungsländer von vornherein benachteiligt sind - hinzu kommt, dass sie durch die Spielregeln noch weiter benachteiligt werden, und dies in mancher Hinsicht in wachsendem Maße." Dem Prozess der Globalisierung mangelt es in erster Linie an Fairness. Dieser Begriff mag stumpf wirken als Argument in der Debatte mit Markt- und Finanzstrategen, doch der Keynesianer Stiglitz weist ihm hohen Stellenwert zu. Wenn die Globalisierung gelingen soll, muss sie fairer ausgestaltet sein. In der Realität ist die Weltwirtschaft heute von perversen Inkonsequenzen geprägt. Allen voran die USA predigen permanent Freihandel und setzen diesen mit fadenscheinigen Begründungen außer Kraft, wenn es ihnen beliebt. Großzügig räumen sie beispielsweise dem ungleichen Partner Bangladesh den freien Handel für 97 Prozent aller Waren ein: für Düsentriebwerke etwa - bloß für Textilien gelten leider Ausnahmebestimmungen.
Stiglitz gibt eine Fülle solch willkürlicher, zynischer Handelspraktiken, die in ihrer Absurdität oft kaum zu überbieten sind. Im Welthandel herrscht das Recht des Stärksten, dem allenfalls die EU oder China ansatzweise opponieren können. Vor allem die Entwicklungsländer aber werden systematisch um ihr Recht geprellt. Stiglitz fordert daher nicht nur Fairness ein, sondern ein schützendes internationales Gericht, das auch neuartige Sanktionen aussprechen kann, beispielsweise den Handel mit "Vollstreckungsrechten". Erhält ein kleiner Staat Recht im Konflikt mit einem großen Widersacher wie den USA, so kann es die ihm zugesprochene Sanktionsmaßnahme an potentere Staaten verkaufen, die sie in einem allfälligen Handelsstreit mit den USA anwenden, bevor ein diesbezügliches Verfahren abgeschlossen ist.
Es bedarf mehr Gerechtigkeit in den Austauschbeziehungen, betont Stiglitz mit Nachdruck. Dass heute davon wenig zu spüren ist, belegt nicht allein der willkürliche Protektionismus der Großmächte, wenn es um landwirtschaftliche Produkte geht, nicht minder gravierend ist der Raubbau an den Bodenschätzen, den global agierende Konzerne gegen minimale Abgeltung und mit maximalen Umwelt- und Sozialfolgen betreiben. Warum eigentlich, fragt Sitglitz, soll ein solcher Konzern den Gewinn aus dem Land wegtragen, wenn der Marktpreis für einen Rohstoff steigt. Dieser Gewinn gehört allein dem Staat, der Konzern baut lediglich als Dienstleister den Rohstoff ab. In Wirklichkeit aber verhält es sich gerade anders. Viele Konzerne verfügen über mehr Finanzkraft als ihre staatlichen Kontraktpartner, obendrein wissen sie die Washingtoner Regierung hinter sich, die ihre Interessen zusätzlich fördert. So werden die Gewinne über das internationale Bankennetz hinweggeschafft, die ökologischen Schäden dagegen zurück gelassen und sozialisiert. Längst dominieren Finanzjongleure die produktiven Industrien ebenso wie die Entwicklungs- und Schwellenländer, die in der Schuldenfalle stecken. Diesbezüglich fällt die Kritik des Weltbank-Ökonomen Stiglitz an den Kreditgebern, insbesondere am Internationalen Währungsfond IWF, schonungslos aus. Dessen Schuldenregime hält er nicht nur für problematisch und unfair, es hat überhaupt erst jene Krisen erzeugt, die es hätte beheben sollen. Eine wirkliche Chance haben die Entwicklungsländer in diesem Haifischbecken nie gehabt. Mehrfach erwähnt Stiglitz mit Respekt den wirtschaftlichen Aufschwung in China, weil er darin den zukünftig härtesten Widersacher der euro-amerikanischen Vorherrschaft ortet.
"Die Entpolitisierung von Entscheidungsprozessen ebnet den Beschlüssen den Weg, die den umfassenderen sozialen Interessen nicht genügend Beachtung schenken", fokussiert er auf den Kern der Ungleichheit. Die Politik hinkt der Ökonomie hinterher, die mit Lobbyarbeit, Korruption und Übervorteilung den Raubbau an den Ressourcen vorantreibt ohne Rücksicht auf Opfer und Desaster. Der internationalisierte Börsenkapitalismus droht die eigenen Fundamente nachhaltig zu untergraben zum Vorteil einer kleinen Schicht von Profiteuren, die mit Steuergeschenken zusätzlich hofiert werden. Demgegenüber fordert der Ökonom Stiglitz eine Repolitisierung der Globalisierung. "Ein neuer globaler Gesellschaftsvertrag zwischen den entwickelten und den weniger entwickelten Ländern tut not", der die Rechte aller Menschen schützt, eine faire Handelsordnung etabliert und effizient schützt, die ökologische Zerstörung vermindert, eine neue Weltfinanzordnung schafft und die demokratische Partizipation auf allen politischen Stufen fördert.
Patentrezepte bietet Stiglitz keine an, weil es keine geben kann. Er zeigt aber Richtungen auf, in die seiner Ansicht nach die Entwicklung gehen muss, wenn die Geschichte mit der Globalisierung gut ausgehen soll. Seine Analysen sind fundiert, differenziert und dezidiert. Es geht um viel. "Um die Globalisierung fairer zu gestalten, müssen wir anders an die Sache herangehen: Wir müssen globaler denken und handeln." Davon kann und darf auch die lokale Kirchturmpolitik nicht länger unbeeindruckt bleiben. Wer aber erzeugt den notwendigen Druck, dass es auch wirklich vorangeht?
Joseph Stiglitz: Die Chancen der Globalisierung. Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt. Siedler, München 2006, 438 S., 24,95 EUR
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