Höhere Sirenen befahlen

Underdog Adolf Endler veröffentlicht ein Buch unter dem Titel seines gespenstischen Opus magnum: "Nebbich. Eine deutsche Karriere"

Echte Endlerianer sind längst vertraut mit "Nebbich", dem von Adolf Endler tausendfach angekündigten, monumentalen "romanhaften Gesellschaftsgemälde", das je nach Lesart mal 8, mal 13, mal auch 85 Bände umfassen soll (wie ein Stasi-Informant aufnotierte). An diesen Versprechungen gemessen ist Endlers jüngstes Buch Nebbich. Ein deutsche Karriere wohl bloß ein Bruchstück des Ganzen.

Im Kontext der "Nebbich"-Pläne geistern seit je her auch die Namen Bobbi "Bumke" Bergermann und vor allem Robert "Bubi" Blazezak herum. Den beiden sagenhaften Alter egos dichtet Endler gern seine delirierenden Erfindungen und Erfahrungen an. Bubi ist als Held für das Opus magnum auserkoren. Der Schlüsseltext Nebelzeit im neuen Buch gehört freilich ganz dem Autor Endler selbst. In diesem trunkenen Märchen erzählt er, wie er 1959/60 im mecklenburgischen Plau am See auf das Wort "Nebbich" gestoßen sei. Im dichten Nebel umherstapfend habe er eine geisterhafte Buchhandlung entdeckt, mit Werken von Joyce, Canetti und Arno Schmidt in der wundersamen Auslage; und dazu sei ihm eine sirenenhafte Stimme zu Ohren gekommen, die ihm ein einziges Wörtchen zuraunte: "Nebbich", was so viel heisst wie Tölpel, Tropf. Obwohl sich später bei gelichtetem Nebel alles als Spuk entpuppte, war dies der Augenblick, "der mich rettete, und der mein Leben verändert hat und es verändert bis heute". So steht dieses "Nebbich" für die visionäre Nebelschau, der Endler seine Existenz ohne Netz und doppelten Boden widmet.

Der Begriff der "Karriere", wie er im Untertitel des neuen Buches steht, ist daher bei einem wie Endler mit Sicherheit ironische Fehlanzeige. Na, wenn schon, nebbich! Seine Karriere beschränkte sich nach ihrem Beginn am Rand einer Düsseldorfer Müllkippe darauf, dass sie sich konsequent ans subproletarische Milieu hielt: im Zeichen der Narrenfreiheit. Endler hat sich am Rand eingerichtet, wie auch die Stasi zur Kenntnis nahm: "Insgesamt lebt er einfach und primitiv", und andernorts: "E. lebt sehr zurückgezogen und macht einen mürrischen Eindruck".

Letzter Eindruck indes täuscht, denn Endler wirkt so nur auf die "notorischen Trottel" und "Arschgeigen" von der Stasi. Literarischen Frohnaturen dagegen bereitet er helle Freuden, wenn er mit dem Elan des karnevalesken Umwälzers, frei nach Antonin Artaud, alles ganz genau in eine tobende Ordnung zu bringen versucht. Endlers raison d´écrire ist die Unterminierung der guten schönen Ordnung, wer immer sie verkündet.

Entsprechend verweigert er auch in diesem Buch eine schlüssige Karrieregeschichte. Nebbich vereinigt eine Fülle an disparaten Texten aus vier Jahrzehnten, die Endler teils ergänzt und umgearbeitet hat. Nebst mythagogischen Fragmenten aus der Feder von Bubi, Bobo und "Ede Nordfall" sowie Ergänzungen zum legendären Tarzan am Prenzlauer Berg (1994) finden sich darin freundschaftliche Verbeugungen vor Freunden wie Karl Mickel oder Elke Erb, und vor Geistesverwandten wie dem Art-brut-Dichter Uwe Greßmann. Dessen gemütvolles Porträt wirft ein Licht auch auf Endler zurück, der anfällig war für Greßmanns poetische Phantasterei, doch nicht dieselbe Naivität aufzubringen vermochte.

Die Mediokrität und Phrasenhaftigkeit des politischen Umfelds weckte bei ihm vor allem Wut und Spott, denen er gerne freien Lauf ließ. Mit Verve demonstriert er seinen rabiaten Ton in einigen Briefpassagen an amtliche Funktionsträger. Fundsachen aus seinem Archiv für Realsatire ergänzen die beißende Abrechnung mit einem Staat, dessen Verlogenheit Endler gründlich satt hatte. "Oh ja, immer wieder diese sich so edel und tief verletzt gebärdende turbulente ›Empörung‹, wenn einer sich etwelchen Polizeigelüsten verweigert, als habe er schnöde ins Allerheiligste gepinkelt".

Der stete Querulant Endler hat sich auch nach der Wende 1989 nie Illusionen gemacht. "Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich das alles selber erfunden". Allem voran um die DDR-Literatur tut es ihm nicht leid, auch wenn er zugesteht, dass da "etwas gewesen sein" muss, das erst von der Geschichte anerkannt werden wird.

Kaum die Rede ist in diesem Band von seiner Übersiedlung in die DDR 1955. Nur am Rand Erwähnung findet auch die Bruchstelle 1963/64, als das Aufbruchspathos in lachenden, unverblümten Sarkasmus umzuschlagen begann. Diese Dinge werden gleichsam vorausgesetzt, die Nebbich-Texte halten sich eher an scheinbar Beiläufiges und an Phantasmagorisches wie Blazezaks Kneipentouren durch Berlin.

Das heißt auch, dass hier nicht alles erstveröffentlicht ist. Endlerianer erkennen etliche Texte wieder. Doch für die noch zahlreichen Leser und Leserinnen, die den poetischen Vagabunden nicht kennen, bietet Nebbich Gelegenheit zur längst fälligen Kontaktnahme. Nebbich ist Endler pur: eine wilde Spiegelfechterei mit seinen Alter egos. Der Autor zeigt sich von seiner spöttischen ebenso wie von seiner bärbeißig charmanten Seite und erweist sich dabei als brillanter, unverwechselbarer Stilist.

In einem der letzten Texte lässt Endler getrost, mit einem Lächeln, durchschimmern, dass auch er nicht gefeit ist vor Huldigungen. Um ein Haar hätte er in den 1980er Jahren eine Ehrung aus Italien angenommen, die mit der zu bezahlenden Übernahme eines Schriftstellerlexikons verbunden war. Läge nicht darin eine ehrliche Form der Huldigung, unabhängig von der "undurchsichtigen Dunkelmänner-Gschaftlhuberei" bei der Vergabe von Preisen und Ehrungen? Noch 15 Jahren später, als er diesen Text anlässlich der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises vortrug, sei ein Teil der Anwesenden darob sehr unwillig geworden.

Der (sub)proletarische Underdog, für den es im "Arbeiter- und Bauernstaat" keinen Platz gab, kann es nicht lassen. Indem er sich mit der Randständigkeit arrangierte und sie zur dadaistischen Tugend machte, hat er sich selbst vor Misstritten bewahrt. Vielleicht liegt darin der Ansatz zu einer unterschwellig großen Karriere, die Endler mit diesem Buch gewitzt und resolut klein geschrieben hat.

Adolf Endler: Nebbich. Eine deutsche Karriere. Wallstein, Göttingen 2005. 292 S., 24,70 EUR


12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

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