Im Augenblick der Entscheidung

AM SCHNITTPUNKT Ein wichtiger Roman von Peter Weiss aus dem Jahr 1956 ist neu entdeckt worden

Jedes Wort, das ich niederschreibe und der Veröffentlichung übergebe, ist politisch«. Mit aller Klarheit hat Peter Weiss 1965 in seinen Zehn Arbeitspunkten eines Autors in der geteilten Welt den Standort markiert, der fortan für sein Schreiben gültig sein sollte.

Zu solcher Entschiedenheit hatte er sich allerdings während eines zwanzigjährigen Schaffensprozesses erst durchringen müssen. Neun Jahre zuvor, die Sowjetarmee hatte eben den Aufstand in Ungarn niedergeschlagen, vermochte er sie in dem auf Schwedisch verfassten, doch nie veröffentlichten Roman Die Situation erst als fragende Alternative zu formulieren. Entweder wir verzehren uns in Unschlüssigkeit oder wir nehmen Stellung. Noch aber sind die Begriffe nicht »geklärt«, Gefühle der individuellen Unbehaustheit obsiegen über die Solidarität. »Wir sind Proletarier der Zeit«, heißt es darin, ohne feste Werte, auf einem ständigen Seiltanz, »wir seltsamen Tiere, die gerne romantisiert werden, die aber immer in Einsamkeit verbleiben«.

Mit dem Namen Peter Weiss verbinden sich zuallererst die nach 1960 entstandenen Werke wie Abschied von den Eltern, Die Ästhetik des Widerstands oder das Marat / Sade-Stück. Noch immer unterbelichtet ist indes die Tatsache, dass Weiss schon vorher Bücher und Dramen geschrieben und daneben auch gemalt und Filme gedreht hat. Insbesondere in den fünfziger Jahren, als der 1939 nach Schweden emigrierte Weiss in Stockholm künstlerisch Fuß zu fassen versuchte, verschränkten sich bei ihm die unterschiedlichen Gattungen zu einem Gesamtwerk der künstlerischen Suche. Der Film löste allmählich die Malerei ab, und literarisch pendelte er nicht nur zwischen Prosa und Drama, sondern zugleich zwischen deutscher und schwedischer Sprache. Mit Dokument I / Der Fremde und Das Duell suchte er Anschluss an den Literaturbetrieb seiner Wahlheimat, mit Der Schatten des Körpers des Kutschers wollte er das Deutsche sinnlich zurückerobern. Die Abrechnung mit der Kindheit in Abschied von den Eltern löste schließlich 1960 den Knoten, indem ihm der Erfolg in Deutschland verführerische Perspektiven eröffnete.

Exakt im Schnittpunkt all dieser Entwicklungslinien liegt der neu entdeckte Roman. Er zeigt den Autor, Maler und Filmemacher Weiss am Scheideweg seines Schaffens.

Die Situation ist ein biographisches wie ästhetisches Schlüsselstück in seinem Gesamtwerk, weil es die bisherige Suche nach dem eigenen künstlerischen Ausdruck in Frage stellt und neu formuliert. Frühere wie spätere Versuche finden sich hierin gleichsam aufgehoben. Weiss zitiert eigene Bilder und Filme, entlehnt Figuren aus anderen Werken. Dante taucht auf, dafür nimmt er von den Romantismen der Vergangenheit Abschied. Hesse kehrt nochmals wieder in der Gestalt des steppenwölfischen Emil Sinclair. Die Entscheidung für die eine oder andere Kunstform ist noch längst nicht so ausdrücklich getroffen, wie es 1965 im Laokoon-Aufsatz geschehen wird. »Worte enthalten immer Fragen. Worte bezweifeln die Bilder... Bilder begnügen sich mit dem Schmerz. Worte wollen vom Ursprung des Schmerzes wissen«.

Dafür ist die Zeit 1956 noch nicht reif, noch scheint alles möglich. Konfrontiert mit einer angespannten politischen Lage (Suezkrise, Ungarn-Aufstand) und zugleich einer persönlichen wie künstlerischen Krise, stellt Weiss in diesem Roman Fragen nach der Funktion von Kunst und Literatur. Die Disparatheit des eigenen Suchens drückt sich darin aus, dass er das eigene Ich gleichsam in verschiedene literarische Spielfiguren aufsplittert.

Die in Paris lebende Schriftstellerin Fanny besucht in Stockholm ihren Vater, den Emigranten und Journalisten Viktor. Bei dieser Gelegenheit trifft sie den Maler Leo, der sich von Frau und Kind frei machen möchte, doch den Mut dazu nicht aufbringt. Auch der Ingenieur Knut sucht Befreiung, indem er »aussteigt«, zumindest einen Tag lang. Derweil fragt sich der Dramatiker Paul nach der Funktion seines Theaters, und seine Frau Thel liebäugelt, von Paul vernachlässigt, mit dem ungebundenen Jean. Sie alle tragen Züge von Weiss selbst, dem Maler, Dramatiker und Romancier, aber auch dem Exilanten, Familienvater und Mann. Zugleich sind in ihnen Freunde aus der Stockholmer Zeit wiedererkennbar. Der Erzähler, der diesen Figuren einen Tag lang folgt, pendelt permanent zwischen Einfühlung und Distanznahme.

Viele Elemente, die Weiss' spätere Bücher und Stücke auszeichnen, sind in Die Situation« bereits angelegt. Inhaltlich etwa der Widerstreit zwischen Marat und Sade um die Befreiung des Menschen von den Normen der Gesellschaft, formal die festgefügten Blöcke, in denen Weiss seine Prosa bis hin zur Ästhetik des Widerstands fortentwickelt. Sprachlich in der Schonungslosigkeit, mit der er auch intimste Fragen behandelt. Diskursiv in den Gesprächen über Kunst und Literatur.

Im Vergleich mit der Meisterschaft der späteren Prosa wirkt Die Situation ungefügter, sperriger, prekärer und in gewisser Weise auch persönlicher. Die Übersetzung von Wiebke Ankersen trifft ausgezeichnet den Ton zwischen Härte und Zweifel. Der Autor Weiss verschanzt sich noch nicht hinter einer »autobiographischen« Konstruktion. Begegnen wir ihm in der späteren Prosa als stilisiertem Rebell und Außenseiter, reflektiert er sich hier als Suchenden und Haltlosen, der zwischen Assimilation und Opposition gegenüber dem miefigen Kunstbetrieb der fünfziger Jahre schwankt. Weiss selbst ist ungeschützter spürbar, auf die von Paul vorgebrachte Forderung nach einer Stellungnahme weiß er noch keine klare Antwort.

Es gibt keine Gewissheiten, bloß Zweifel sowohl bezüglich der künstlerischen Aufgabe wie der privaten Beziehungen. Alles ist schwankend. Hektische sexuelle Abenteuer, mit unnachahmlicher Präzision und Schonungslosigkeit eingefangen, trösten nur für Augenblicke darüber hinweg. Und Auseinandersetzungen über Kunst und Politik kommen zu keinen schlüssigen Resultaten. »Wo stehe ich, was will ich, was habe ich für Möglichkeiten?« fragen sich die Protagonisten. Welchen Weg wähle ich in der Situation der Entscheidung? Bleibe ich unschlüssig oder kann ich »auf eine breite, eingreifendere Weise Stellung beziehen«? Bis Paul zu einer »spontanen Solidarität« finden kann, wird er sich in Wachheit und Offenheit üben.

Aus Distanz hört sich der Erzähler wechselweise in die monologischen Selbstgespräche seiner Figuren hinein, um unvermittelt selbst als beobachtendes Ich ins Spiel einzugreifen. Permanent wechselt dieses Erzähler-Ich seine Rolle, entzieht sich der fixen Zuordnung und verleiht dem Geschehen eine Kontinuität, die als disparate Gedankeneinheit des Autors selbst lesbar ist.

Dergestalt vermag die Veröffentlichung dieses frühen Romans nicht nur die Aufmerksamkeit für das vielfältige, weit gefasste Werk von Peter Weiss zu schärfen, Die Situation weist eindrücklich auch darauf hin, welche Erfahrungen hinter seinem späteren Bekenntnis liegt: »Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit.« Vielleicht ist es gerade dieses Ringen um Entschiedenheit, das selbst in seinen entschiedensten Texten spürbar wird und zu berühren vermag.

Peter Weiss: Die Situation. Roman. Aus dem Schwedischen von Wiebke Ankersen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 264 Seiten, 38 DM.

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Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

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