Im Jahr 1960 gelang Peter Weiss der Durchbruch in Deutschland. Im aufstrebenden Suhrkamp Verlag war soeben sein erstes Buch Der Schatten des Körpers des Kutschers erschienen. Und demnächst sollte ihm der Prosaband Abschied von den Eltern folgen. Sein Verleger Siegfried Unseld setzte auf neue Autoren, unter ihnen auf Peter Weiss. So bot sich ihm endlich die Chance, sein literarisches Talent zu entfalten und einem breiten Publikum zu präsentieren. Bei allen Erfolgen blieb Weiss selbst jedoch zurückhaltend.
Ein Grund für diese zweifelnde, grüblerische Zurückhaltung bestand darin, dass er 1960 längst kein junger Autor mehr war, sondern mit 44 Jahren bereits ein stattliches, doch schmerzlich erfolgloses Werk vorweisen konnte. Dieses frühe Schaffen vor 1960 ist in der Werkbetrachtung lange Zeit unterbelichtet geblieben. Erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat es eine verstärkte Resonanz gefunden. Ein zentrales Dokument, das die Schnittstelle zwischen frühem und spätem Werk markiert, ist aber erst jetzt auf Deutsch publiziert worden: Das Kopenhagener Journal. Es bildet so etwas wie ein Scharnier innerhalb der zweigeteilten Karriere von Peter Weiss.
Während der Dreharbeiten zu einem seiner letzten Filme und parallel zur Überarbeitung von Abschied von den Eltern führte Weiss zwischen Juli und November 1960 ein sehr persönliches Tagebuch, worin er sich schonungslos mit sich, seinem Werk und seinen Ambitionen auseinander setzte. "Man arbeitet im verfaultesten Kernpunkt einer verseuchten Gesellschaft, solange man hier lebt kann man ja auch gar nichts erreichen, ohne sich dieser Gesellschaft zu bedienen" - notierte er am 19. August. Eingespannt ins Dilemma zwischen Befreiung und Verpflichtung, kämpfte Weiss um vorbehaltlose Ehrlichkeit und wusste zugleich, dass ihm dies selbst nur ansatzweise gelang. Doch das "Tagebuch könnte der feste Punkt in einem nach vielen Richtungen hin expansiven Leben sein."
Peter Weiss stand 1960 am Wendepunkt seines Lebens. Malerei, Film und die schwedischen Schreibversuche waren für ihn verbraucht. Dafür verhieß sein Debüt in Deutschland Aussicht auf Erfolg, der sich dann mit Abschied von den Eltern (1961), Fluchtpunkt (1962) und dem Marat/Sade-Stück (1964) auch eingestellt hat. Das persönliche Journal zeichnet das berührende Bild eines Künstlers auf der Suche, der permanent zwischen Krise und Katharsis schwankt - eine Bewegung, die der autodidaktische Perfektionist Weiss nie aufgeben wird, auch nicht im Erfolg. Aber er wird die tastenden Anfänge der ersten beiden Schaffensjahrzehnte überwinden, dies deutet sich in diesem Kopenhagener Journal an. Aus der Optik der Werkgenese ist es deshalb von unschätzbarem Wert - zumal es in einer mustergültigen Leseausgabe erschienen ist, mit detaillierten Anmerkungen, die fast alle Wünsche erfüllen.
Durch Siegfried Unseld erhielt Weiss 1960 auch Einblick in die unveröffentlichten Arbeitsjournale von Bertolt Brecht, wovon er ganz "benommen" gewesen sei. Dieses Vorbild mochte ihn bestärkt haben, selbst ein Arbeitsheft zu führen. Kurz vor seinem Tod 1982 erschienen zwei Bände dieser Notizbücher, zwei weitere folgten kurz danach. Sie vermitteln wertvolle Einblicke in Weiss´ Arbeit, indem sie die intensiven Recherchen und konzeptionellen Entwürfe dokumentieren sowie den Prozess der permanenten, zuweilen quälerischen Selbstbefragung wiedergeben. Stets aber war bekannt, dass es sich dabei um eine geglättete Auswahl handelte. Diese lässt sich nun am Original nachmessen, das jüngst in einer kritischen Ausgabe auf CD-ROM herausgekommen ist, welche Jürgen Schutte in jahrelanger akribischer Arbeit ediert hat.
Ein Vergleich von Print- und Digitalfassung zeigt durchaus bemerkenswerte Abweichungen. Auf der CD-ROM finden sich viele (in der Druckversion gestrichene) Eintragungen, die das stete Tasten und Suchen von Weiss demonstrieren. In Heft 1 von 1962 etwa taucht zwischen Zitaten, Adressen und belanglosen Notizen auf einmal der korrigierte Entwurf eines Briefes an Hermann Hesse auf, den Weiss am 1. Juli 1962 zu dessen 85. Geburtstag abschickte.
Die CD-ROM-Edition umfasst all das, was dieses Medium auszeichnet: verlinkte Kommentare oder ein ausgesprochen sorgfältiges Namensregister, vor allem aber sind hier die bisher unbekannten frühen Eintragungen auf Schwedisch zu finden. Und nicht zu vergessen die Faksimile-Funktion, die eine Vielzahl der Seiten als Originalkopie dokumentiert und so Schriftbild und eingefügte Skizzen wiedergibt. Im Unterschied zum Kopenhagener Journal ist die wissenschaftliche Gesamtedition der Notizbücher eher für Spezialisten gedacht. Wer immer sich mit Peter Weiss auseinandersetzt, wird daran aber nicht vorbeikommen.
Auf die "Fälschung" der gedruckten Notizbücher weist auch Jens-Fitje Dwars in seiner Peter Weiss-Biografie hin. "Die scheinbar so authentischen Notizbücher sind zurechtgebogen, ein Palimpsest von 1982, dessen Urtext sich an vielen Stellen erhalten hat, an manchem aber nur noch durchschimmert." Dwars´ Buch genießt gegenüber früheren Biografien den Vorzug, dass der Autor die verfügbaren Nachlass-Dokumente eingearbeitet hat. Er dankt dies, indem er das Jahr 1960 nicht als Anfangspunkt von Weiss´ Werk setzt, sondern als "Jahr der Entscheidung". Er räumt dem frühen Werk ebenso breiten Raum ein wie dem nach 1960/61 - im Bewusstsein dessen, dass Weiss nur aus der gesamten Schaffensgeschichte heraus in seinem grüblerischen Ernst und seiner kreativen Konsequenz verstehbar ist. Dwars mutet seinem Publikum im besten Sinn einiges zu. Seine Biografie verwebt Leben und Werk auf mustergültige Weise und hält stets sorgsam jene Distanz aufrecht, die notwendig ist, um Biografie und biografische Konstruktion soweit möglich auseinander zu halten.
Die drei neuen Publikationen insgesamt demonstrieren eines: Mag das Werk von Peter Weiss zur Zeit auch nicht besonders in Mode sein, seine nächste Renaissance wird kommen. Weiss´ Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Privatheit und Politik sind in der globalisierten Welt keineswegs ausgeräumt. Sie sind aktueller denn je - es muss bloß neu entdeckt werden.
Peter Weiss: Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe. Hg. von Rainer Gerlach und Jürgen Schutte. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 206 S., 24 EUR
Peter Weiss: Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Jürgen Schutte. CD-ROM. Digitale Bibliothek, Bd. 149, Berlin 2006. 46 EUR
Jens-Fitje Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2007. 302 S., 24,90 EUR
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