Dr. Selma Brechthold kittet die Scherben ihres Lebens. Vor kurzem ist die 49-Jährige ihren Traumjob als Chefdramaturgin bei den Wiener Festwochen an eine jüngere Konkurrentin los geworden. Gleichzeitig hat sie ihr Freund verlassen. Diese doppelte Kränkung nagt an ihrem Lebensmut. Mit einer Reise nach London versucht sie eine neue, vielleicht letzte Chance zu packen, doch Selma weiss selbst, dass sie mit ihrer vagen Projektidee kaum Erfolg haben wird. Selma geht wachsam und zugleich wie abwesend durch sterile Flughafeninterieurs und abgewrackte oder herausgeputzte Stadtlandschaften. Ringsum kann sie nur Ödnis, nur dumme Herdenmenschen wahrnehmen. Und der Blick in den Spiegel. Er zeigt eine alternde Frau, die sich selbst fremd zu werden droht. Nach einer Nacht voller Überraschungen entkommt sie am 7. Juli 2005 mit oberflächlichen Blessuren glückhaft dem Terroranschlag auf die Londoner U-Bahn.
Von diesem minimalistischen Handlungsgerüst getragen fließt Selmas Gedanken- und Beobachtungsstrom in 31 Etappen träge dahin und zieht den Leser und die Leserin langsam mit sich fort. Marlene Streeruwitz mutet ihnen einiges zu. Sie verfolgt ihre Heldin wie ein Schatten bis in die tiefsten Gefühlsregungen hinab. Präzise und minutiös hält sie fest, was Selma bewegt, stört, ängstigt. Selma trägt ihre Seele zu Markte, nur notdürftig vermag sie sich gegen die Außenwelt zu panzern. "Sie musste aufpassen. Sie durfte nicht verbittert werden." Doch schon flüchtigste Begegnungen drohen sie tief zu verletzen. Selma könnte nicht recht sagen, weshalb. Der Appell an sich selbst, zu kämpfen, hart zu bleiben, "das Ausmaß ihrer Zerstörung" zu verbergen, verhallt in ihrer inneren Leere. Das Leben ist vertan, die Lust verraucht, die Schönheit verblasst. Soviel glaubte sie zu wissen. "Sie musste alles begraben. In sich." Die kalte, unfreundliche Großstadt widerspiegelt ihre Trostlosigkeit und lässt sie mit ihren Prada-Schuhen wie eine "herzige" Provinzlerin vorkommen, die ahnt, dass ihre verzweifelte Hoffnung hier nicht eingelöst werden würde. Sarah Kane theatralisch mit Christopher Marlowe zu "simultanen Welten der Grausamkeit und Zerstörung" zu verquicken? Dafür war der Kulturbetrieb längst zu zynisch und zu oberflächlich. Dafür würde sich kein Interesse mehr finden lassen.
Formal bettet Streeruwitz ihre Heldin in fest gefügte, absatzlose Blöcke ein - die an Peter Weiss´ Ästhetik des Widerstands erinnern. Und in das für sie typische Stakkato, das Selmas Labilität sprachlich nicht nur sicht-, sondern spürbar macht: "Weil sie das nicht sehen wollen hätte können." Ihre Blicke kristallisieren sich an zufälligen Passanten zu Gefühlen der Verachtung, Selma projiziert ihre Wut und ihren Hass ungeniert auf ihr unbekannte Gegenüber. Dem Liebespaar in der U-Bahn missgönnt sie das vorgeführte Glück, und den schwarzen Geschäftsmann taxiert sie mit dem Blick eines "Sklavenhändlers". Doch zu wehren getraut sie sich nicht, als sie von Betrunkenen angerempelt und als "bloody old bitch" beschimpft wird. Ingrimm und Ohnmacht schaukeln sich unterschwellig aneinander hoch und erstarren im Gefühl der Demütigung. Selma ist an einem Endpunkt angelangt, an dem die Bilanz düster ausfällt: "Niemand liebte sie so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Gewünscht hatte. Sie hatte nie bekommen, was sie sich erwartet hatte. Und jetzt war es zu spät." Streeruwitz lässt uns in die Abgründe dieser Verzweiflung blicken - mit einer präzisen, hart punktierten Sprache, die dem Buch bei aller Trägheit und Tristesse eine funkelnde Prägnanz verleiht und immer wieder auch Momente größter Spannung hervorruft.
Man wäre verwundert, wenn Streeruwitz mit ihrem neuen Roman nicht auch Kritik provoziert hätte. Ein summarischer Überblick demonstriert, dass männliche Kritiker weit weniger Geduld mit diesem Buch aufbringen als Kritikerinnen. Und er demonstriert vor allem auch, dass es oft geradezu gewohnheitsmäßig auf die feministische Schiene (ab)geschoben wird. Genau diese Voreingenommenheit aber geht an der Sache vorbei - glücklicherweise. Selma ist nicht nur ein weibliches Opfer, das von der Männergesellschaft unterdrückt und bei Gelegenheit fallen gelassen wird. Sie, die sich einst für eine Global Playerin in der schicken Kulturszene hielt, kann ihr Scheitern nur schwer ertragen. Ihr ehemaliger Chef, der sich "eine Geliebte als Chefdramaturgin" wünschte: ein Schwein, gewiss, wie ihr Mann, mit dem sie Kinderlosigkeit vereinbart hatte und der sich nun mit einer jungen Ungarin den Vaterwunsch erfüllt. Selma reagiert mit Hass nicht nur für die Männer. Sondern auch für "diese Ostfrauen. Die das ernst nahmen. Mit dem Frau-Sein." Und sie lässt sich zu einem unverhohlenen Rassismus hinreißen, den sie sonst nie gebilligt hätte.
In einem kleinen Buch, das kürzlich erschienen ist, umkreist Streeruwitz diese schmale Grenze, die mit Gedanken und Worten schnell überschritten ist. Als Mittel dagegen fordert sie, dass "die Person vollständig gedacht wird... Erst dann ist Rassismus verlernt. Beginnt Rassismus als unerinnerte Erinnerung einer Kultur zu verblassen."
Selmas Tunnelblick ist zu solcher Ganzheit nicht fähig. "Sie sass in der Londoner underground und liess sich eine Rassistin sein. Sie genoss das." Derart das Selbstmitleid mit Verachtung aufwiegend. Doch so leicht kommt sie nicht davon. Jeder Blick in den Spiegel reißt sie wieder zurück in ihre "Bodenlosigkeit nach unten". Sie bemerkt, dass es nicht reicht, einfach beim "österreichischen Lieblingsspiel" mitzumachen: "Wie bleibe ich am besten ein Opfer."
Entfernung. - mit Schlusspunkt im Titel - hält diese Spannung aus. Selma schwankt zwischen elitärem Dünkel und weinerlicher Selbstanklage. Sie ist Opfer männlicher Willkür, aber auch eine aus dem Rahmen gefallene Kulturschickse, deren Erziehung zur "Mittelstandshöflichkeit" ihr keine Instrumente der Gegenwehr bereit stellt. Streeruwitz evoziert nicht voreilige Bedeutungen, ihr Text schwankt vielmehr differenziert und behutsam im Zwielicht von Selmas Projektionen. Den Ostfrauen, ihrer Konkurrenz, wirft sie vor: "Denen ging es nur um siegen." Und ihr selbst? Selmas frühere Siegermentalität hat sie nicht gegen die Niederlage gewappnet. In ihrer Hilflosigkeit erinnert sie an den Spruch auf einer beliebten Kunstpostkarte: "Verlieren ist wie gewinnen, nur umgekehrt". Selma ist zwar aufmerksam, aber nicht neugierig, das macht sie doppelt verletzlich.
Ihr verdruckstes Gemisch aus Schuld, Demütigung, Angst und Ohnmacht muss in diesem Buch ganz ausgehalten und ganz ausgelesen werden. Eine kürzere Beschreibung würde es zur Karikatur verzeichnen. Dies gilt, auch wenn die eine oder andere Episode etwas allzu weitläufig geraten ist, allem voran die Beschreibung eines Experimentalfilms, die kaum adäquate Bilder hervorzurufen vermag. Gerade in diesem Kontext aber gelingt Marlene Streeruwitz ein kleines erzählerisches Glanzstück: die zufällige Begegnung mit dem Filmoperateur und Barkeeper Sebastian, einem fetten, sanften Schmerzensmann. In seiner Gegenwart hellt sich Selmas Gemüt unvermutet auf, und diese Entspannung erneuert sich nach dem Anschlag in der U-Bahn, dem sie mit schockhafter Wachheit entkommt.
"Sie hatte an eine Zukunft gedacht. Sie erschrak." Symbolisch überhöht setzt die Autorin am Schluss ihres Buches ein feines Zeichen der Erlösung aus diesem persönlichen Jammertal. Es wäre Selma zu gönnen, dass sie ihren inneren Krieg überwinden könnte. Trotz dem permanenten Auf und Ab zwischen Selbstmitleid und Verachtung wächst sie im Verlauf der 470 Seiten ihren Lesern und Leserinnen ans Herz.
Marlene Streeruwitz: Entfernung. Roman. S. Fischer, Frankfurt 2006. 476 S., 19,90 EUR
Marlene Streeruwitz: Gast.Fremd. Aus. Zwei Texte mit Hörbuch, gelesen von Elisabeth Orth. Wieser, Klagenfurt / Celovec 2006. 1 CD, 44 S., 25,70 EUR
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