Ich ist ein anderer« hat Rimbaud vor 100 Jahren einen Leitsatz der Postmoderne vorweggenommen. In seinem neuesten Prosastück mit dem skurrilen Titel Cherubin Hammer und Cherubin Hammer läßt ihn Peter Bichsel anklingen, wenn er gleich zu Beginn beteuert: »Cherubin Hammer war ein anderer«. Nicht der, von dem unter diesem Namen erzählt wird. Cherubin 1 hat nur den Namen von Cherubin 2 geerbt, über den wiederum Fußnoten uns in Kenntnis setzen. Was kompliziert klingt, ist es nur scheinbar. Peter Bichsel erzählt aus dem Leben des wortkargen Archivars Cherubin Hammer, der eigentlich Schriftsteller sein möchte. Mit einem Buch käme er in den Besitz einer Biographie. Doch die schwarzen Wachstuchhefte bleiben unbeschrieben und so begnügt er sich damit, jeden Tag einen Stein auf den Berg hinauf zu tragen, um da ein Denkmal zu hinterlassen. Ein Buch wäre ein Buch, mit einem Schriftsteller als Urheber, ein Steinhaufen aber ist nur ein Steinhaufen. So gibt Cherubin Hammer am Ende auch das Steineschleppen auf, statt dessen errichtet er mit Hilfe des »Tetris«-Spiels eine virtuelle Mauer um sich. Den dazu notwendigen Game Boy hat er sich mit dem Schuldbewußtsein erstanden, mit dem andere nach Pornoheften schielen. Ein älanges Leben lang« hat er seine Neigung zum frühen Sterben gepflegt, passiven Widerstand geübt, so daß er im Leben wie im Tod keine Spur hinterläßt. Ob dieser erfundenen Geschichte vergißt Bichsel aber den »echten« Cherubin Hammer nicht. In den Fußnoten, die aufklärende Korrektheit signalisieren, unterminiert er gleichsam die Erzählung von Cherubin 1. Wo dieser schweigt, gebärdet sich sein Alter ego lärmend und vital. Cherubin 2 ist »eine Seele von Mensch« und eine Macht am Stammtisch. Zwischen Bierdeckel und Bierglas heckt er laufend abenteuerliche Unternehmungen und windige Geschäfte aus. Er schlägt Fenster an, handelt mit Weinen oder verkauft dem Metzger dessen eigenen Schinken. Lauter »Bombengeschäf te«, auch wenn es meist schief läuft. Doch ihn kümmert es nicht, solange er großzügig irgendwie einen ausgeben kann. Am Ende mißlingt beider Leben; und mehr noch der Gemeinsamkeiten: auch Cherubin 2 ist eine erfundene Figur, wie der Autor am Ende zugibt. Der wirkliche Cherubin Hammer wäre ein dritter, doch wer trägt schon einen solchen Namen. Die beiden Cherubins kommen zu keiner gültigen Biographie, weil sie ans Leben hohe Ansprüche stellen. Anders verhält es sich mit Rosa Fässler und Bertha Schmied, der Frau des Archivars und der Freundin seines Doppelgängers. Bichsel räumt ihnen je einen kurzen Lebenslauf ein. Im Unterschied zu dem der Cherubins gelingt ihr Leben, doch nur, weil sie nicht viel davon verlangt haben. Rosa hatte nie Schneiderin werden können, wenigstens aber traf sie den stillen Dr. Hammer, der ihr ein bißchen Leid tat und ihr Mann wurde. Und Berthas Geschichte gleicht jener ihres Vaters, nur daß dieser vor ihr starb und sie an schließend das Regiment über die Taverne übernehmen konnte. Als Cherubin 2 einmal am runden Tisch Platz nimmt, läßt sie ihn bleiben. Leben ist immer ein Entwurf, der nur selten den Tigersprung aus der Phantasie in die Realität hinüber schafft. Die Versuche, einer Biographie habhaft zu werden, bleiben meist vergeblich, Fiktion. Den Konjunktiv »Was wäre wenn« hat Bichsel als Quell des Erzählens bezeich net, so ist er auch Quell der menschlichen Lebensentwürfe. Wenn sich Phantasie und Realität aneinander reiben, entsteht Spannung, die sich bei Bichsel gerne in funkelnden Paradoxien ausdrückt. »Er erinnerte sich nicht, aber er wußte es noch«, heißt es über Cherubin 1. Und der 65-jährige Cherubin 2 wird älter geschätzt als er ist, sieht aber für sein Alter noch jung aus. An solchen Stellen tut sich jeweils eine Kluft auf, in der das Schweigen im Erzählen aufscheint. Im Grunde würde Peter Bichsel lieber schweigen und erzählen als 100 Seiten schreiben. Auch wenn dieses neue Buch umfangmäßig die Produktion der letzten Jahre förmlich sprengt, werden einige darin gleichwohl den behutsamen »Bichsel-Sound« seiner kurzen Prosa wiedererkennen und ihm womöglich Betulichkeit und Wiederholungszwang vorwerfen. Ob zurecht oder nicht, bleibt auch Geschmackssache. Wer indes genauer hinsieht, wird einen Text entdecken, der imprägniert ist vom »petit-train-train«, vom ewigen Einerlei des Lebens. Einen Text obendrein, der voll raffinierter Bezüge und Anspielungen steckt. Das Scheitern ist alltägliches Brot. Bichsel gewinnt ihm eine menschliche Note ab. Es wäre nicht auszuhalten, wenn alle Biographien glücken würden. Vielleicht tragen wir deshalb alle einen Sisyphus in uns. Bleibt der eine oder andere Stein mal oben auf dem Berg liegen, kehren wir freiwillig zurück und holen uns einen neuen. Die Suche nach dem Glück ist der Motor, der abstirbt, wenn diese Suche ans Ziel käme. Von nichts Geringerem erzählt Peter Bichsel in dieser wunderbaren, ein bißchen traurigen, zugleich aber auch lustigen Geschichte.
Peter Bichsel: Cherubin Hammer und Cherubin Hammer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999. 110 Seiten, 34 DM.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.