Den Kern aller Erfahrung im Werk von Imre Kertész umschreiben die Worte Auschwitz und Buchenwald: der unglaubliche Zufall seiner Rettung vor der Vernichtung in der Todesmaschinerie. Ende Juni 1944 als Fünfzehnjähriger deportiert, kehrte er ein Jahr später nach Budapest und damit in ein scheinbar normales Leben zurück, in dem eine derartige Erfahrung kaum Platz finden konnte. Dennoch setzte er, als ob nichts geschehen wäre, die abgebrochene Ausbildung am selben Gymnasium fort, wurde "irrtümlicherweise" Journalist, dann notgedrungen Fabrikarbeiter und verlegte sich später aufs Übersetzen. Mehr schlecht als recht schlug er sich durch, seine Frau Albina half durch ihren Verdienst mit, so dass er sich 1960 an einen Text setzen konnte, den er innerhalb von zwei Monaten niederschreiben wollte, der ihm aber schließlich 13 Jahre abforderte: Roman eines Schicksallosen. 1975 erschien das Meisterwerk erstmals, ohne nennenswerte Resonanz.
Dieses Leben glauben wir aus Kertész´ Büchern bestens zu kennen. Roman eines Schicksallosen, Fiasko, Kaddisch für ein ungeborenes Kind oder Galeerentagebuch sind autobiographisch grundiert, in seinen eigenen Worten: "Ich betrachte mein Leben als Rohstoff für meine Romane". Im Chor versuchen sie das negative Mysterium von Auschwitz als "universales Gleichnis" im Bewusstsein zu behalten. Doch, wendet Kertész in seinem Essay Lange, dunkle Schatten ein: "Gehäuft sind Bilder vom Mord frustrierend und ermüdend: Sie bewegen die Phantasie nicht." Die Konsequenz davon ist, dass einzig die ästhetische Einbildungskraft, die Fiktion eine reale Vorstellung des Grauens vermitteln kann.
So erkundigt sich auch der Fragesteller im jüngst erschienen Dossier K., einer sokratischen Selbstbefragung, immer wieder nach dem Wahrheitsgehalt der literarischen Erzählungen. Kertész bejaht diesen und distanziert sich zugleich vehement vom Begriff Autobiographie. Alles ist geschehen, wie er es beschrieb, und doch anders, weil der Roman eine ästhetische Eigengesetzlichkeit entwickelt, die sich nicht sklavisch an die Wirklichkeit halten darf. Seine Bücher sind: "Getreue Wirklichkeit, die sich hervorragend in die Struktur der Fiktion einfügt." Dergestalt erhält das persönliche Schicksal eine höhere Bedeutung: "Das Erlebnis der Todeslager wird nämlich dort zu einer allgemeinen menschlichen Erfahrung, wo ich auf die Universalität des Erlebnisses stoße. Und das ist Schicksallosigkeit, dieser charakteristische Zug der Diktaturen, den Menschen seines eigenen Schicksals zu enteignen, es in ein Massenschicksal zu verwandeln, ihn zu verstaatlichen, zu entpersönlichen."
Die Erkenntnis, "überall und jederzeit erschießbar zu sein", die "Auslieferung an den Zufall", sie schützt vor Eitelkeit ebenso wie vor Hass und Larmoyanz. Dafür hat sie Kertész gelehrt, "kühn zu denken" und "ehrlich zu sein": persönlich ebenso wie poetologisch. Zu welcher Kühnheit er literarisch fähig ist, hat zuletzt der Roman Liquidation demonstriert. Er spielt in den neunziger Jahren und schließt chronologisch an den Roman Fiasko, inhaltlich an Kaddisch für ein nicht geborenes Kind an. Bé, ein Schriftsteller und Übersetzer (wie Kertész), scheitert am Leben, das er einer Laune des Lagerbetriebs schuldet. Er kam im Dezember 1944 in der Krankenbaracke des KZ Birkenau zur Welt und überlebte wundersamer Weise. Doch wozu? In seinem Abschiedsbrief 46 Jahre später klagt er die Sinnlosigkeit seiner Existenz an. Die neue Freiheit nach dem Mauerfall hat ihm vollends den "Überlebenstrotz" geraubt: "Jetzt müsste ich wie ein Erwachsener, wie ein Mann leben. Dazu habe ich keine Lust."
Bés Freund, dem Verlagslektor Keserü, gelingt es, aus dem Nachlass des Toten einige Manuskripte zu retten, unter anderem die Theaterkomödie Liquidation, worin er selbst sowie Bés Geliebte Sára wortwörtlich jene Rollen spielen, die sie neun Jahre später im wirklichen Leben einnehmen. Ihre eigene Zukunft darstellend, sind sie Gefangene einer unheimlichen literarischen Prophezeiung. Der Titel Liquidation bezieht sich dabei auf die Auflösung des Verlags, die in dem Moment vollzogen werden soll, als Keserü das Manuskript herausbringen will. Aus dieser paradoxen Konstellation gibt es kein Entrinnen.
Der Roman bewegt sich ständig zwischen der theatralischen Fiktion und der erzählten "Wirklichkeit". Dieses Oszillieren ist Ausdruck von Keserüs existentiellem Zweifel, den er aus der Hamletfrage für sich ableitet: "Bin ich, oder bin ich nicht." Darin steckt eine Forderung Camus´, die Imre Kertész im Aufsatz Das glücklose Jahrhundert wiederholt: der Mensch muss "zu sich selber zurückfinden, wieder Person, Individuum werden, in jenem radikalen Sinn der Existenz, der diesem Wort eignet".
Liquidation ist ein brillantes, vielschichtiges Buch, das die ins Unendliche vorangetriebene Spiegelung von Fiktion und "Wirklichkeit" aber stets nachvollziehbar macht, weil Kertész darin auch schlichte, erzählende Passagen eingebettet hat. Ein einziger Satz jedoch genügt, um uns vom vermeintlich sicheren Fundament wieder in Abgründe zu stürzen. Die 140 Seiten enthalten alles: die Trostlosigkeit wie den Trost, den Kertész´ Werke im Kern auch mitenthalten. Im November 2000 hat er seine Berliner Rede Die exilierte Sprache mit den Worten ausklingen lassen: "Und wenn man mich jetzt fragt, was mich heute noch auf Erden hält, was mich am Leben hält, antworte ich, ohne zu zögern: die Liebe."
Auch Keserü wird am Ende von Liquidation aus der Wortgefangenschaft in die "Wirklichkeit" entlassen. Er schaut zum Fenster hinaus und versucht, sich das klebrige Mitleid mit den Obdachlosen drunten im Park abzugewöhnen. In seinem Rücken flimmert der Computer, auf dessen Monitor die Aufforderung steht: "Gehe weiter. Abbrechen."
Nicht selten führen wir Operationen durch, ohne zu bemerken, dass wir die Geführten sind und die Operation von selbst abläuft. So werden wir Opfer einer Logik, die wir verdrängen müssen, um darüber nicht zu lachen - oder zu verzweifeln. Der verräterischen Spur dieser Logik folgt die 2004 auf deutsch erschienene Detektivgeschichte (Freitag 4/2005): "Alles kommt auf die Logik an. Die Ereignisse an sich bedeuten nichts." Solche Einsicht kennzeichnet den Bericht eines Geheimdienstlers, der im Rückblick, mittlerweile selbst ein Inhaftierter, den Fall einer Gefangennahme rekapituliert, weil er endlich nach Jahren die Logik dahinter erkannt zu haben glaubt. Selbst ein leicht gewichtiges Nebenwerk wie diese Detektivgeschichte, die Kertész auf Anregung seines Verlegers mit "frischer Inspiration" zügig niederschrieb, holt auf listige Weise das Kernthema ein.
In Form eines Dialogs mit sich selbst bündelt Kertész in Dossier K. alle Fragen nach Leben und Werk. Indem der zurückhaltende Fragesteller Zitate aus den Romanen und Essays heranzieht, verstrickt er uns in ein spannungsvolles Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Dabei wird die Meisterschaft erkennbar, mit der Kertész seine persönliche Erfahrung literarisch aufhebt. Die schneidende Skepsis entspannt sich vermittels eines zuweilen fast frivol anmutenden Witzes, der sein Schreiben und Denken auszeichnet. Kertész gibt uns so überraschende Antworten wie: "Im ganzen gesehen befinde ich mich eher auf der heiteren Seite". Sein Leben nach 1945 war wie das seiner gleichaltrigen Freunde geprägt von einer jugendlichen Vitalität, die sich vor allem für politische Debatten, Filme und Mädchen interessierte. Der Keim zum "unverbesserlichen Romantiker", den er in sich spürte, machte ihn für eine Weile sogar zum Parteigänger der Kommunisten.
Als Grund für sein Überleben, nebst dem blinden Zufall, entlehnt Kertész einen Begriff von Jean Améry: "Weltvertrauen". Dieses Weltvertrauen scheint ihm immer wieder über Isolation, Depression und die existentielle Beengtheit unter dem kommunistischen Regime hinweggeholfen zu haben: "Ich habe so gelebt, als würde das System eines Tages zu Ende gehen - und darin war ich mir im Übrigen auch sicher, weil das Leben es nicht auf Dauer duldet, verleugnet zu werden." Diese Zuversicht grundiert seine Romane und seine Essays gerade auch da, wo er ihr entgegen schreibt. Keinesfalls aber darf sie mit Versöhnlichkeit verwechselt werden. Kertész ist ein strenger Autor, der sich in keiner Weise vom Erfolg blenden lässt. Auch wohlmeinendsten Interpretationen, die seit Jahren zahlreich erscheinen, vermag er nichts abzugewinnen, wenn er sie nicht zu verstehen glaubt. "Ich will nicht undankbar erscheinen, aber ich hatte in keinem einzigen Fall das Gefühl, dass in diesen Werken von mir, geschweige denn von meinen Arbeiten die Rede ist." Ob sich dies auch auf die qualitativ ganz unterschiedlichen Aufsätze im akademischen Reader Der lange, dunkle Schatten bezieht, bleibt offen. Möglich wär´s, wie folgendes Zitat daraus erahnen lässt: "Dadurch, dass Kertész mit einem ausgezeichneten Kunstgriff einen unerfahrenen, naiven fünfzehnjährigen Jungen zum Helden seines Romans macht ...".
Mit Kertész´ gesammelten Essays und Reden bleiben wir auf der sicheren Seite. Sie sind zu einem wichtigen Kompass für unser historisches Bewusstsein geworden. Dabei ist sich der Autor stets der Schizophrenie seiner authentischen Zeugenschaft bewusst: Der Überlebende von Auschwitz will etwas behalten und zugleich mit allen teilen. Auf berührende Weise setzt er uns diesen Zwiespalt aus Anlass von Roberto Benignis umstrittenem Film La vita è bella auseinander. Den Kritikern hält er entgegen, dass der "Geist, die Seele dieses Films" authentisch seien. Ein Urteil mit Gewicht.
Die Bücher von Imre Kertész erzählen eine Tiefengeschichte des 20 Jahrhunderts, in der Kafkas Welt eine Fortschreibung erfährt und Camus´ Sisyphos seinen Stein solange wälzt, bis er sich zum handlichen Brocken abgeschliffen hat, so dass Sisyphos die Leere den Hügel hinanstemmt - wie der Schluss von Fiasko beschreibt. Dossier K. rundet dieses Werk exzellent ab, indem es tiefgründig und mit Witz über die vertrackten Zusammenhänge von Leben und Werk reflektiert. Wertvolle Aufschlüsse über den Entstehungsprozess seiner Bücher stehen neben privaten Auskünften und manchmal nur widerwillig preisgegebenen biographischen Reminiszenzen. Ob dieser Dialog nun die endgültige Wahrheit erzählt, ist unerheblich, wie der Autor am Schluss selbst mit einer schalkhaften Volte zu erkennen gibt: "Ich sehe überall Widersprüche. Aber ich liebe Widersprüche."
Imre Kertész: Dossier K. Eine Ermittlung. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006, 238 S., 19,90 EUR
Detektivgeschichte. Aus dem Ungarischen von Angelika und Peter Maté. Rowohlt, Reinbek 2004, TB-Ausgabe 2006. 138 S., 7,90 EUR
Liquidation. Roman. Aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger. Suhrkamp, Frankfurt 2003, TB-Ausgabe 2005. 142 S., 8,90 EUR
Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm u.a. Suhrkamp, Frankfurt 2003, TB-Ausgabe 2004. 260 S., 9 EUR
Mihály Szegedy-Maszák, Tamás Scheibner (Hg.) Der lange, dunkle Schatten. Studien zum Werk von Imre Kertész. Passagen Verlag, Wien 2004. 376 S., 44 EUR
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