Zwischen Wall-Street und Wal-Mart

Schnäppchen In seinem Buch "Superkapitalismus" fordert der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich das Primat der Politik über die Ökonomie

Alle reden heute über Ökonomie. Dow Jones, Effizienz und Profit sind längst geläufige Begriffe. Wir sind ökonomisch auf dem Quivive, um täglich die besten Angebote zu prüfen. Nichts ist der guten Laune abträglicher als wenn wir uns rechtfertigen müssen dafür, ein Produkt nicht zum optimalen Preis erstanden zu haben. Denn die Freiheit des Menschen ist heute die Freiheit des Konsumenten. Allerdings hat die Subprime-Krise für Unsicherheit gesorgt. Wer in Aktien investierte, hat Verluste hinnehmen müssen. Einigen dürfte damit die Lust am Börsenspiel vergangen sein.

Wenn alle von Aktien und Konsum reden, wo bleiben da gesellschaftliche Verantwortung und Gemeinwohl? - fragt der Ökonom und ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich mit Nachdruck in seinem Buch Superkapitalismus. Mit gutem Grund. Wir Bewohner der kapitalistischen Warenwelt leiden unter einer Schizophrenie, die wir im Alltag nur allzu gerne verdrängen: Wir sind Arbeitnehmende und Bürger, wir sind aber auch Konsumenten und Aktionäre. Diese Doppelrolle wird zunehmend ungemütlicher. Der Verbraucher in uns richtet sich gegen den Arbeitnehmer, und der Anleger setzt uns als Bürger unter Lobbydruck. Jede Jagd nach einem günstigen Schnäppchen oder jede Investition in einen Rentenfond zieht uns ein wenig mehr den Boden unter den Füßen weg, denn hohe Renditen und billige Preise stehen im Widerspruch zu fairen Löhnen und zu demokratischer Mitsprache. Das klingt nach Kurzschluss zwischen Makro- und Individualökonomie, doch an der Einsicht in diesen Widerspruch führt momentan kein Weg vorbei, wenn wir uns mit den gegenwärtigen ökonomischen Entwicklungen befassen.

Das Dilemma ist real. Robert Reich erkennt darin eine gefährliche Tendenz, die in den USA weiter fortgeschritten ist, doch längst Ausläufer in der ganzen Welt besitzt. Die Wirtschaft hat sich in den letzten zwanzig Jahren rasant entwickelt und Prozesse in Gang gebracht, die auch "eine Verschiebung in uns selbst" ausgelöst haben. Im Zuge dessen droht das Modell der "sozialen Marktwirtschaft" oder des "demokratischen Kapitalismus" auszulaufen. Dieses "Beinahe Goldene Zeitalter", wie Reich es nennt, zeichnete sich durch staatliche Regulierungen und sozialpartnerschaftliche Absprachen aus, mit dem Ziel der Kaufkrafterhaltung, des sozialen Ausgleichs und der wirtschaftlichen Planung. Der Preis dafür bestand in nationalen "Oligopolen", die sich den Markt aufteilten und nur moderat konkurrierten. "Jedes Produkt entstand in einer eigenen Sparte mit ihrer eigenen Hierarchie. Angestellte und Arbeiter waren in einer starren Rangordnung klassifiziert. Regeln und standardisierte betriebliche Abläufe legten fest, wer was wann und wie zu tun hatte. Eigenes Denken war nicht gefragt und hätte den gesamten Plan gefährdet."

Mit dem Fall der Mauer und dem Wegfall der Zollschranken ergab sich eine neue Konkurrenzsituation, die das Modell der demokratischen Planwirtschaft aushebelte. Auf einmal herrschte Wettbewerb, in dem nur bestehen konnte, wer neue Produkte lancierte und sich gegen Konkurrenten durchsetzte. Die Zahl der Angebote stieg rasant, an ihnen erfreute sich eine zunehmend preisbewusste Nachfrage auf Seiten der Konsumenten. Mehr Mehr! wurde zum Leitspruch, und: Immer billiger! Parallel dazu gewannen die Kapitalmärkte an Dynamik, nicht zuletzt durch die angehäuften Rentengelder, die mit Gewinn investiert werden müssen. Am 14. November 1972 stand der Dow Jones bei 1.000 Punkten, am 17. April 1991 erreichte er die Marke von 3.000, heute sind es rund 12.500 Punkte.

Diese Entwicklungen zeitigen Folgen, die Reich detailliert beschreibt. "Wir haben einen Faustischen Pakt geschlossen. Die heutige Wirtschaft kann uns großartige Schnäppchen anbieten, weil sie uns an anderer Stelle abkassiert." Die Bürgergesellschaft wird zwischen Wall-Street und Wal-Markt aufgerieben und findet bei der Politik immer weniger Gehör für ihre Anliegen.

Reich legt ein Buch vor, das nicht die politische und ökonomische Theorie weiterschreibt, sondern aufrütteln und einen zentralen Punkt der aktuellen Wirtschaftsentwicklung sichtbar machen will: unseren persönlichen Zwiespalt als Konsumenten und Arbeitnehmende, als Aktionäre und Bürger. Die Manager zeichnen sich keineswegs durch ihre besondere Gier aus, wie gerne behauptet wird: Sie sitzen nur an Posten, wo sie diese Raffgier hemmungsloser ausleben können. Otto Normalverbraucher dagegen muss sich mit Aldi-Schnäppchen und der billigen Hoffnung auf einen Eurolotto-Gewinn bescheiden. Die Casino-Mentalität steckt heute in uns allen. Wer würde nicht, wenn er und sie die Mittel dazu hätten?

Diese Frage ist unangenehm und berührt den wunden Punkt. Wir sind alle Komplizen in einem System, das unsere Konsumwünsche erfüllt, dafür die Arbeitsplatzsicherheit in Frage stellt und den Bürgersinn entleert. Vor allem letzteres hat gravierende Folgen, betont Reich mit Bezug auf die USA: "Unsere Demokratie scheint nicht mehr in der Lage, diese Debatten zu führen, obwohl wir sie heute nötiger haben denn je". Daran liegt der eigentliche Skandal, gerade auch bezüglich linker Konzepte, die bestenfalls noch punktuell ins "Gleichgewicht der Konkurrenz" einzugreifen vermögen. Konsumentenvereinigungen laufen den Gewerkschaften den Rang ab. Die Instrumentarien, die einst für die "soziale Marktwirtschaft" entwickelt wurden, taugen nicht mehr. "Solange sich die Spielregeln des Superkapitalismus insgesamt nicht ändern, hat immer das Unternehmen den Wettbewerbsvorteil, das sich nicht ›sozial verantwortlich‹ verhält."

Eindrücklich führt Reich gut belegte Beispiele an dafür, wie Unternehmen mit Geld politische Prozesse behindern und beschleunigen oder wie Politiker die Komplizenschaft mit den Unternehmern aus Eigennutz pflegen. Interessengefechte zwischen Politik und Wirtschaft sind heute meist reines Theater, von dem für Konsumenten und Aktionäre keinerlei Gefahren drohen.

Gegen kulturkonservative Wehklagen weist Reich auf die zwei Seiten der Medaille hin: Die Industrie produziert, was die Verbraucher konsumieren - ungeachtet der Moral. Der Ökonom verbietet sich jede Illusion. "Im Zeitalter des Superkapitalismus können Unternehmen nicht gesellschaftlich verantwortlich handeln", weil sie nur einem Zweck zu dienen haben: der Maximierung des Profits zugunsten der Aktionäre. Grundsätzlich gilt deshalb ohne Einschränkung: Trau keiner Selbstverpflichtung eines börsenkotierten Unternehmens, es wird sie nur solange einhalten, bis eine politische Diskussion verhindert und das Medieninteresse abgeklungen ist. Ethische Ziele sind reines Theater oder Marketing. Diese Haltung wird von den Konsumenten generell gebilligt, weil niemand für ein Produkt mehr bezahlen will als nötig.

So unmissverständlich Reich hier argumentiert, so fundamental ist das Gegenmittel, das er gegen den Superkapitalismus ins Feld führt: "Es gibt keine andere Möglichkeit, die gesellschaftlichen Verpflichtungen der Privatwirtschaft festzulegen, als durch den Prozess der politischen Willensbildung" - also der allgemein verbindlichen Gesetzgebung. Nur gesetzliche Spielregeln, die nicht einzelne Unternehmen diskriminieren, sondern für alle gelten, können letztlich auch die Akzeptanz der Wettbewerber finden. Es obliegt also der Politik, das heißt uns als Bürgern, das regellose Treiben in erwünschte Bahnen zu lenken. In diesem Punkt trifft sich Robert Reich mit Joseph Sitglitz, der in der "Entpolitisierung von Entscheidungsprozessen" ein zentrales Element dafür erkennt, dass die Politik der Ökonomie hintennach hinkt, anstatt sie zu regulieren.

Superkapitalismus ist kein angenehmes Buch, vor allem deshalb, weil es uns selbst als Bürger in die Pflicht nimmt. Reich konzentriert sich erklärtermaßen auf die Verhältnisse in den USA, weil da die Auswirkungen des Superkapitalismus weiter fortgeschritten sind. Doch Europa ist keine Insel. Deshalb gilt es genau zu beobachten, was in den USA vor sich geht, um daraus Lehren zu ziehen. Kategorisch wendet sich Reich vor allem dagegen, dass Unternehmen als "natürliche Personen" behandelt werden, mit (Einsprache-) Rechten und moralischen Pflichten. Dies sei ganz und gar unmöglich. Rechte und Pflichten stehen nur Bürgern zu, die sich an der demokratischen Willensbildung beteiligen.

Ob seine Rezepte genügen oder nicht ihrerseits kritikwürdig sind, ist im Grunde gleichgültig. Wichtiger ist, dass sein Buch demokratische Fantasien und politische Initiativen auslöst, damit der Bürger gegenüber dem Konsumenten in uns wieder gestärkt wird. Diesbezüglich schafft Robert Reich Klarheit. "Der erste und oft schwerste Schritt", schließt er, "besteht darin, klar zu denken." Die Börsenkrise hat deutlich gemacht, dass in der Hochrenditepolitik ein Systemfehler steckt. Vielleicht hilft das ja, die Hierarchie zwischen Ökonomie und Politik wieder zu verändern.

Robert Reich Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Campus, Frankfurt / New York 2008. 326 S., 24,90 EUR

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Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

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