Zum Saal von Richter Hansel? Der Pförtner in seinem Glaskasten deutet wortlos und gelangweilt geradeaus. Geradeaus schleusen uniformierte Justizwachtmeister ebenso gelangweilt alle Besucher durch den Metalldetektor, der Taschen und Körper nach Waffen durchleuchtet. Einen Schritt weiter öffnet sich lautlos eine Glastür, die den Weg zum Gerichtssaal freigibt. Wer hier jeden Tag arbeitet, kennt das Prozedere. Andere macht es nervös. Oder noch nervöser. Die blassen Gestalten zum Beispiel, die auf den formgegossenen Plastikschalen in dem düsteren Gang vor Saal sieben auf die Verhandlung warten. Eine Jalousie hat sich verklemmt und hängt schräg über das Fenster zum Innenhof. Die Deckenverkleidung fehlt und entblößt dicke, aluminiumummantelte Lüftungsrohre. Das Kölner Landgericht hat den abblätternden Charme der siebziger Jahre.
Karin Bischoff macht nicht nur das triste Ambiente nervös: Ihr steht die Verhandlung gegen ihren Ex-Mann Günter Bischoff bevor, angeklagt des sexuellen Missbrauchs seiner Töchter, in der zweiten Instanz. In der ersten wurde er freigesprochen. Amtsrichter Otmar Schmäring fand die Aussagen der Töchter unglaubwürdig, unter anderem, weil "nicht auszuschließen" sei, dass sie und ihre Mutter sich davon Vorteile in den anstehenden Scheidungs- und Sorgerechtsverfahren versprächen. Verurteilt wurde Günter Bischoff wegen der Misshandlungen seines ältesten Sohnes, die er gestand: Er stieß ihn durch die geschlossene Flurtür, dass die Glasscheibe darin zersprang. Er schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, dass die Brille des Sohnes zerbrach und seine Nasenwurzel einen Riss davontrug. Wegen dieser "nicht besonders gravierenden" Körperverletzungen verhängte Schmäring 70 Tagessätze à 70 Mark, statt viereinhalb Jahren ohne Bewährung, die der Staatsanwalt gefordert hatte. Weshalb dieser Berufung einlegte.
Darum sitzt der 46-jährige Berufskraftfahrer, der sich selber als "Choleriker" charakterisiert, nun wieder auf der Anklagebank. Mit Schnauzbart, Lederweste und einem Gesichtsausdruck, wie er unbeteiligter kaum sein könnte. Karin Bischoff dagegen, klein und drahtig, in Jeansjacke und Karohemd, blass und energisch unter einem Wust roter Locken, kämpft. Sie kämpft, seit ihre ältesten Töchter ihr vor drei Jahren die sexuellen Übergriffe des Vaters enthüllten und sie mit ihren fünf Kindern im Alter zwischen sechs und 20 Jahren auszog. Sie kämpft zielstrebig um die seelische Gesundheit ihrer Kinder, den Zusammenhalt der Restfamilie - und gegen ihren Ex-Mann. Sie ist bereit zu erzählen, aber: "Ich spreche über mich und die Kinder. Punkt. Die Kinder interviewen Sie nicht!" In dem großen Gerichtssaal mit der braun getäfelten Stirnwand und der miserablen Akustik müssen ihre Kinder derweil Rede und Antwort stehen. Der Vorsitzende Richter der Jugendschutzkammer am Landgericht, Wolfgang Hansel, ist ein anderes Kaliber als sein Kollege am Amtsgericht. Er nimmt die jungen Zeugen ernst, wird nicht laut, brüllt nicht. Er setzt sich neben sie, während sie ihre Aussage machen, statt von oben auf sie herabzublicken, und schließt die Öffentlichkeit aus. Zum Beispiel, als Nicole, heute 23, und ihre 18-jährige Schwester Jaqueline bezeugen müssen, wie ihr Vater ihnen in aller Öffentlichkeit an den Busen griff; "Dollys überprüfen" nannte er das. Wie er sich mit nacktem Unterkörper und erigiertem Penis auf sie gelegt oder ihnen die Finger in die Scheide gesteckt hat.
Wolfgang Hansel ist die Ausnahme unter den Richtern in Verfahren gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Denn die meisten seiner Kollegen sind für diese Aufgabe weder qualifiziert noch sensibilisiert. Die Jugendschutzkammern haben wenig justizinternes Prestige; hier landen oft Berufsanfänger. In ihrer Ausbildung kommt das Thema nicht vor. Fortbildungen - etwa in Gesprächsführung mit Kindern oder über die Dynamiken sexuellen Missbrauchs - dürfen von Richtern und Staatsanwälten nicht verlangt werden, weil das angeblich ihrer grundgesetzlich garantierten Unabhängigkeit widerspricht. In der Summe seien sie "fortbildungsresistent", klagt Ursula Enders von der Kölner Beratungsstelle Zartbitter e.V. "Die kindlichen Opferzeugen sind nur Beweismittel, die sollen kommen, die sollen ihre Aussage machen, und dann sollen die wieder gehen", fügt die Gerichtshelferin Astrid Kiel hinzu.
Fachleute wie Kiel und Enders fordern seit langem Sonderzuständigkeiten, wie es sie in Schleswig-Holstein gibt: Dort bearbeiten einzelne Richter und Staatsanwälte fast ausschließlich Sexualdelikte. Die Realität aber heißt allzu oft: Heute Verkehrsdelikt, morgen Missbrauchsverfahren. Und keine Sensibilität dafür, dass jedes Erscheinen vor Gericht selbst Erwachsenen in weniger brisanten Fällen Adrenalinstöße verursacht. Die Folge, sagt Ursula Enders, ist "dass Kinder manchmal fragen: Ist das hier der Knast? Und sie haben Angst, in den Knast zu kommen." Eine subtile und perfide Fortsetzung der Schuldzuweisung, mit der Täter in der Regel ihre Opfer zum Schweigen bringen.
Die Konfrontation mit dem Täter - da sind sich alle Fachleute einig - ist die größte Belastung für die Opferzeugen, eine ambivalente psychische Gemengelage aus Vertrauen und Angst, aus Schuldgefühlen, den Angeklagten möglicherweise ins Gefängnis zu bringen, und dem Wunsch, dass die Gewalt aufhören und die zugefügten Verletzungen vom Richter wenigstens anerkannt werden mögen. Die zehnjährige Nadja Bischoff und ihr drei Jahre ältere Bruder Paul erfahren das auf schmerzhafte Weise. Überraschend urteilt die psychologische Gutachterin, sie könnten in Anwesenheit des Vaters aussagen, und so verzichtet Richter Hansel auf die Option der Strafprozessordnung, Günter Bischoff von der Verhandlung auszuschließen.
Nadja kommt herunter aus dem Kinderzimmer des Gerichts - eine seltene Einrichtung, die in diesem Fall auf das Engagement von Astrid Kiel zurückgeht -, den Teddy im Arm und eine Mitarbeiterin von Zartbitter an der Hand. Nadja wird in den Saal gerufen. Fünf Minuten später steht sie weinend auf dem Flur. Schockiert, auf den Vater getroffen zu sein und nicht bereit, in seiner Gegenwart zu sprechen. Auch Paul reagiert schockiert - und mutig: Er erklärt, nur auszusagen, wenn sein Vater den Saal verließe. Richter Hansel lässt Günter Bischoff hinausführen und Paul aussagen. Karin Bischoff seufzt. Vor der Vernehmung der jüngeren Kinder hatte sie die meiste Angst.
Den Betroffenen den Horror nehmen soll seit dem 1. Dezember 1998 das Zeugenschutzgesetz. Das sieht unter anderem die Videovernehmung der Zeugen vor. Entweder als Aufnahme der Erstvernehmung bei der Kriminalpolizei, um dem Opfer wiederholte Befragungen zu ersparen. Oder als Simultanübertragung während der Verhandlung: Die Zeugin sitzt in einem anderen Raum und spricht zur Kamera, so dass sie außer dem Richter keinem der Prozessbeteiligten in die Augen schauen muss. Angewandt wird die in den Medien seinerzeit gefeierte und mit Millionensummen angeschaffte Technik allerdings kaum, und Fachleute sind entsetzt über die Lücken im Gesetz. Denn das Opfer kann sich nicht gegen die Filmaufnahme wehren, der Richter jedoch jederzeit dessen Aussage in der Hauptverhandlung anordnen. Der Verteidiger des Beklagten hat die Möglichkeit, die Videoaufnahme zu entleihen und seinem Mandanten weiter zu reichen - in den USA handeln Kinderpornokreise bereits mit solchen Vernehmungsvideos. Und den meisten Opfern bereitet Unbehagen, in eine Kamera zu sprechen und nicht zu wissen, wer zuschaut: Zum Beispiel der Angeklagte, dessen Reaktionen auf die Aussage alle sehen - außer dem Opfer. "Die Anwesenheit des abwesenden Täters" nennt Ursula Enders von Zartbitter das. "Was wir brauchen, sind sensible und mobile Richterinnen und Richter. Und keine mobilen Kameras", stellt die Berliner Sozialpädagogin und Zeugenbegleiterin Friesa Fastie fest. "Wir brauchen auch keine neuen Gesetze oder höhere Strafen. Wir müssen die Möglichkeiten der Strafprozessordnung nur anwenden."
Kein gutes Haar also am lange angestrebten Zeugenschutzgesetz? Eins doch, das Recht des Opfers nämlich, sich von Beginn des Ermittlungsverfahrens an eine kostenlose Nebenklagevertretung zu nehmen, einen Anwalt oder eine Anwältin auf Staatskosten. Das aber wissen nur wenige, weil es von den Medien nicht thematisiert wurde.
Im Bischoff-Prozess folgen zähe Verhandlungstage. Das Gericht sucht nach unbeteiligten Zeugen für die Anklage. Verwandte und Freunde, der Familienhelfer und die Nachbarn, Lehrerinnen, Mitarbeiter des Jugendamts und von Zartbitter werden befragt. Konkrete Belege für die Missbrauchsvorwürfe liefern sie nicht. So wird die Glaubwürdigkeit der Bischoff-Töchter das zentrale Thema - wie in fast jedem Prozess gegen sexuellen Missbrauch. Gehört es doch zu den Charakteristika dieser Tat, dass es außer Opfer und Täter keine Zeugen gibt und dass die Täter ihre Übergriffe meisterhaft verschleiern. So auch im Fall Bischoff.
Hier hakt der Anwalt von Günter Bischoff mit der klassischen Verteidigungsstrategie ein und bemüht sich, die Glaubwürdigkeit der Opfer zu untergraben: Haben die Mädchen Bücher über Vergewaltigung und Missbrauch gelesen? Hat ihre Mutter ihnen die Vorwürfe suggeriert, um im Rahmen des Scheidungsprozesses das Sorgerecht zu bekommen? Und wenn nicht: Haben ihre Kinder die Vorwürfe in vorauseilendem Gehorsam erfunden? Vor dem Amtsgericht war das eine erfolgreiche Strategie. In dieser Instanz versagt sie, dank der Erfahrung und der klaren Linie von Richter Hansel.
Ein Problem bleibt die Zuspitzung auf die Glaubwürdigkeit dennoch. "In diesen Strafverfahren dreht sich häufig alles darum, was die Zeugin vorher getan hat, was sie nachher getan hat, was sie in der Schule oder zu Hause gesagt hat", klagt die Bonner Rechtsanwältin Jutta Lossen, die seit rund einem Dutzend Jahren Opferzeugen als Nebenklägerin vertritt. "Und das, was der Angeklagte getan hat, kommt nicht angemessen zur Sprache. Die Kinder haben oft das Gefühl, dass sie selber die Angeklagten sind."
Das Gezerre um die Glaubwürdigkeit und Totschlagparolen wie "Missbrauch mit dem Missbrauch" haben etwas nachgelassen, seit der Bundesgerichtshof im Sommer 1999 eine Liste von Qualitätsstandards für Glaubwürdigkeitsgutachten formulierte. In dem gleichen, von Fachleuten wie Jutta Lossen sehr begrüßten Urteil hat der BGH auch hervorgehoben, dass die Gerichte ihre Verantwortung und Urteilsfindung nicht an die Gutachter delegieren dürfen.
Am fünften und letzten Prozesstag der Bischoffs wertet die Gutachterin die Aussagen der Mädchen als glaubwürdig. Der psychologische Gutachter des Täters wiederum stellt keine Auffälligkeiten an Günter Bischoffs Psyche fest und hält ihn für schuldfähig. Ein ganz normaler Mann. Sein Verteidiger fordert Freispruch. Die Nebenklagevertreterinnen mögen im Namen ihrer Mandantinnen keine konkrete Haftzeit verlangen, sondern plädieren für eine "angemessene Bestrafung". Der Staatsanwalt fordert vier Jahre. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.
Die Spannung im Saal ist mit Händen zu greifen, als der Vorsitzende Wolfgang Hansel schließlich das Urteil verkündet: Drei Jahre Haft. In der Begründung redet er Günter Bischoff ins Gewissen und rügt auch das Urteil seines Vorgängers, Amtsrichter Schmäring.
Langsam und müde verlassen die Zuschauer den Saal. Die Kinder von Karin Bischoff erwarten ihre Mutter zu Hause. "Paul hat die Hand zur Faust geballt und gesagt: Ja! Endlich kann ich wieder aus dem Haus gehen, ohne dass ich vorher aus dem kleinen Fenster gucken muss, ob da wer steht! Und Nadja, meine Zehnjährige, die mein Mann nie leiden mochte, die ist trotzdem in Tränen ausgebrochen und hat geschluchzt: Drei Jahre! Das hält kein Mensch aus, Mama! Weißt du, wie lang drei Jahre sind? Ich bin fast vierzehn, wenn die um sind! Nicole, meine Älteste, war empört: Drei Jahre hat er nur bekommen? Für den ganzen Horror? Für 20 Jahre Tyrannei? Das reicht mir nicht."
Für die Bischoffs ist das Urteil wichtig. Es nimmt die Verletzungen der Kinder ernst. Es öffnet den Weg für Therapie und Verarbeitung. Was das Urteil nicht ist: ein Schlussstrich. Karin Bischoff: "Ich hab´ diesem Urteil entgegengefiebert, ich hab´ gegen diesen Mann gekämpft, ich bin drei Jahre lang mit dem Adrenalinspiegel eines Leistungssportlers herumgelaufen. Und an diesem Mittwochabend hat jemand den Lichtschalter ausgemacht, und man hat mir den geklaut, gegen den ich gekämpft hab´, und er war nicht mehr da!"
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