Die Normalität ländlicher Cliquen

Ausländerhass in Ost und West Die Debatte um sogenannte No-Go-Areas geht am Kernproblem des Alltagsrassismus vorbei

Juni 2005. Dreharbeiten im brandenburgischen Wittenberge. Der dunkelhäutige Schauspieler Steve-Marvin Dwuma entfernt sich vom Set. Auf der Straße beschimpfen ihn Jugendliche als "Nigger", schubsen und schlagen ihn. Kein spektakulärer Vorfall, der öffentlich nur bekannt wird, weil es zufällig einen Schauspieler traf. Der Stoff des Films gibt dieser rassistischen Normalität eine besonders zynische Note: "Neger, Neger, Schornsteinfeger" heißt er und handelt von den Erlebnissen eines Afrodeutschen in der Nazizeit. Rassismus damals wie heute. "Sehen Sie," sagt die Kollegin vom ZDF im fernen Mainz wütend, "deshalb fahre ich nie in den Osten. Meine Tochter hat auch eine dunkle Haut." Gäbe es doch den Ort, der sicher wäre! Im Mai wurden in München die Darsteller der André-Heller-Schau "Afrika Afrika" in der U-Bahn rassistisch angepöbelt. Rassismus hier wie da.

Eine verbreitete Landplage

Rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen sind ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. In einer bundesweiten Umfrage von 1998 schätzte sich ein Drittel der Befragten selbst als "ziemlich rassistisch" ein, und aktuell finden 60 Prozent, es lebten zu viele Ausländer in Deutschland. Verschiedene Studien diagnostizieren bundesweit einen Mentalitätswechsel, der im letzten Jahrzehnt schleichend stattgefunden hat. Menschen, die sich in der Mitte der Gesellschaft verorten, vertreten Meinungen, die bis dahin als rechtsradikal angesehen wurden: das Recht auf Nationalstolz, die Ablehnung Obdachloser und Zustimmung zu rassistischen Behauptungen. Gleichzeitig modernisiert sich der jugendliche Rechtsextremismus und kommt aus der Schmuddelecke heraus. Der Skinhead ist nur noch ein Modell unter vielen. Die Szene hat sich ausdifferenziert, hat Elemente aus anderen Jugendkulturen übernommen und wirkt umgekehrt in diese hinein. Rechtsextremismus ist kein klar abgrenzbares Outsider-Phänomen mehr.

In den ländlichen Regionen bis hinein in Klein- und Kreisstädte sind rechtsextreme Jugendcliquen inzwischen Normalität. "Es ist im Wortsinn eine Landplage," meint Benno Hafeneger, der eine Langzeitstudie über rechtsextreme Cliquen in Hessen betreut. Er sieht die bedeutsamen Unterschiede eher zwischen Stadt und Land als zwischen Ost und West. Eine Generation nach der anderen konnte weitgehend ungestört in eine rechtsextreme Jugendkultur sozialisiert werden. In Regionen mit starker Abwanderung ist sie oft alternativlos. In allen Bundesländern, nicht nur im Osten.

Verschärft wird diese Entwicklung durch den massiven Abbau von Mitteln für die Jugendarbeit in den letzten Jahren. Hafeneger spricht von einer in der Geschichte der Bundesrepublik "beispiellosen und irreversiblen Zerstörung der Infrastruktur außerschulischer Jugendarbeit". Die ostdeutschen Bundesländer trifft diese Einsparpolitik härter als den Westen, weil auf niedrigerem Niveau gestrichen und gekürzt wird. Da, wo sich der Staat aus seinen Aufgaben zurückzieht, überlässt er das Feld den Rechtsextremen.

Neben diesen allgemeinen gesellschaftlichen Trends gibt es auch deutliche Unterschiede zwischen Ost und West. In den alten Ländern war der Rechtsextremismus durch traditionelle Organisationsformen geprägt, in den neuen von Subkulturen mit einer hohen Gewaltbereitschaft. Eine Entwicklung dorthin findet seit einigen Jahren auch im Westen statt, aber noch immer wohnen 40 bis 50 Prozent der militanten Rechtsextremen in einem Gebiet, in dem nur 16 Prozent der Bevölkerung leben. Das Risiko, Opfer rechtsextremer Gewalt zu werden, ist viermal so hoch wie im Westen, die Dunkelziffer nicht eingerechnet.

Der Prototyp des rechten Schlägers ist männlich und jugendlich. Nur fünf Prozent der Täter sind in Kameradschaften oder der NPD organisiert, und nur weitere fünf Prozent stehen dazu in Verbindung, stellt der Politologe Richard Stöss fest. Die große gemeinsame Klammer ist rechtsextreme Musik, der Besuch von Konzerten, auch verbotenen, bei denen Kameradschaften und die NPD ihren Einfluss ausüben. Ideologie im klassischen Sinn ist in der Szene schwach entwickelt. Selten finden sich geschlossene rechtsextreme Weltbilder.

Die meisten Überfälle finden spontan statt, selbst bei Brandanschlägen gibt oft keine längeren Vorbereitungen. Es sind Gruppenunternehmungen, Nachahmung spielt eine große Rolle. Die Motivation setzt sich in der Mehrheit der Fälle zusammen aus Langeweile, Alkoholkonsum, Aufputschen mit rechtsextremer Musik und der Suche nach Feinden, zu denen "Zecken", das heißt linke Jugendliche, Hip-Hopper, Punker und Ausländer, bzw. Menschen, die dafür gehalten werden, gehören. Diese Mischung entspricht nicht der klassischen Vorstellung von politisch motivierter Gewalt. Deshalb wurde das Phänomen lange nicht begriffen. Verharmlosende Einstufungen als verwirrte Einzel- und Trunkenheitstaten, die jahrelang die Haltung von Polizei und Gerichten dominierten und die öffentliche Wahrnehmung heute noch prägen, sind zum Teil darauf zurückzuführen.

Tun, was der Stammtisch sagt

Kurz nach der Maueröffnung wurden Ost-Skinheads aus der DDR-Haft entlassen, und westdeutsche Kader machten sich auf nach Sachsen und Brandenburg zum rechtsextremen Aufbau Ost. Die Auswirkungen waren schnell spürbar. Um Berlin entstand ein "brauner Ring". Die Bahnhofsplätze im Umland waren von Skinheads besetzt. Schulklassen mit türkischen Kindern wurden auf Klassenfahrten überfallen, links aussehende Jugendliche verprügelt. In Lübbenau wurde 1991 der Pole Andrej Fratczak das erste Mordopfer, nur einen Monat später wird der Angolaner Amadeo Antonio Kiowa in Eberswalde zu Tode getreten. Das Phänomen der No-Go-Area, über das heute debattiert wird, ist nicht neu, es wurde direkt mit der neuen Bundesrepublik geboren.

Ob der Begriff aber tauglich ist, um die Zustände ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, ist fraglich. Zu schnell kann normierend wirken, was zunächst beschreibend gemeint war, und auf die potenziellen Opfer zurückschlagen: Wer da hingeht, ist selbst schuld, wenn etwas passiert, und gleichzeitig wird Sicherheit an anderen Orten suggeriert, die es auch dort nicht gibt. "Alle Migranten haben eine innere Landkarte," meint Mohamed Hamdali. Er berät in Brandenburg Migranten beim Aufbau von Selbsthilfeorganisationen und kennt die Lage bestens. Den Begriff No-Go-Area benutzt er trotzdem nicht gern. Er ist ihm zu statisch. Zwar sei Gewalt ein großes Problem, das größte aber der Alltagsrassismus, auf dessen Boden die Gewalt sich entfalten kann.

Rechtsextreme Gewalttäter fühlen sich als Vollstrecker des Volkswillens. Sie tun, was an Küchen- und Stammtischen nur gesagt wird. Rechtsextreme Einstellungen sind im Osten weiter verbreitet als im Westen. Das war nicht immer so. Entgegen aller Klischees stellt Stöss fest, dass die Westdeutschen bis Mitte der neunziger Jahre anfälliger für Rechtsextremismus waren als die Ostdeutschen. Seitdem aber steigt die Tendenz rechtsextremer Einstellungen im Osten rasant. Eine Untersuchung von 2003 weist eine gewaltige Spanne zwischen den Bundesländern aus. Demnach reicht das rechtsextreme Potenzial von zehn Prozent in NRW bis 30 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, im Osten sind es durchschnittlich 24 Prozent, bundesweit "nur" 16 Prozent.

Die Erklärungsversuche hierfür sind vielfältig aber wenig befriedigend. Es gibt offensichtliche Zusammenhänge mit öffentlichen Diskursen, wie bei den rassistischen Ausschreitungen in Rostock, Hoyerswerda, Hünxe, Mölln und Solingen, die bundesweit auf dem Hintergrund der rassistisch aufgeladenen Asyldebatte stattfanden. Ostspezifisches wurde in der sogenannten "Töpfchendebatte" auf die autoritäre, staatliche Kindererziehung in der DDR zurückgeführt. Andere Erklärungsversuche verweisen auf den staatlich verordneten Antifaschismus, die Verdrängung der Nazivergangenheit und die restriktive Ausländerpolitik in der DDR.

Stöss verweist darauf, dass das Ansteigen rechtsextremer Einstellungen zusammenfällt mit dem Sinken positiver Zukunftserwartungen in der Nachwendezeit. Dafür spricht auch, dass ein großer Teil der Arbeitslosen zum Rechtsextremismus neigt. Bernd Wagner, ein Kenner der Entwicklung im Osten, verweist auf Gefühle der Deklassierung, die das Beharren auf Teilhabe per Volkszugehörigkeit fördern. Der Zusammenhang zwischen Deklassierung und Rechtsextremismus ist aber nicht zwangsläufig und selbst erklärungsbedürftig.

Kasernierung statt Integration

Hamdali sieht einen wesentlichen Grund in der sehr speziellen Migrationssituation in Ostdeutschland. Keines der neuen Bundesländer hat einen höheren Ausländeranteil als zwei Prozent, bundesweit sind es neun Prozent. Der größte Teil dieser Ausländer sind zugewiesene Asylbewerber, die meist in alten Kasernen außerhalb der Städte untergebracht sind, sich ausdrücklich nicht integrieren sollen, nicht arbeiten dürfen, die Sprache nicht lernen und im Supermarkt auffallen, weil sie mit Gutscheinen statt Bargeld bezahlen. Die viel kritisierte Ausländerpolitik der DDR, die in der Kasernierung und der ausdrücklichen Verweigerung von Integration bestand, wird im Ergebnis nahtlos fortgeführt. Als Ausländer empfindet man auch die Spätaussiedler. Sie werden ebenfalls per Quote zugewiesen und brechen nach drei Jahren Zwangsaufenthalt in der Regel in wirtlichere Gegenden auf. Eine Mischung der Gesellschaft findet nicht statt. 2003 verfassten die Ausländerbeauftragten der neuen Länder ein Memorandum, in dem sie die Bundesregierung auffordern, dass Asylverfahrensgesetz zu ändern. Die gesellschaftliche Integration von Asylbewerbern sehen sie als dringende Voraussetzung dafür, dass sich das fremdenfeindliche Klima im Osten ändern kann.

Die vielbeschworene Zivilgesellschaft vermag wenig auszurichten gegen strukturelle Bedingungen, die rechtsextreme Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit begünstigen, und Programme gegen Rechtsextremismus können wegfallende Regelfinanzierung von Jugendarbeit nicht ersetzen. Appelle an die wohlmeinende Bevölkerung, mehr auf die Straße zu gehen und "Gesicht zu zeigen", sind immer richtig. Aus dem Mund von Politikern, die für das Desaster verantwortlich sind, wirken sie scheinheilig.


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