Eckhart Nickel schreibt einprägsame erste Sätze. Sein 2018 erschienener Roman Hysteria begann so: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“ Nickel lieferte damit gleich zu Beginn ein Kondensat seines Romanstoffs, nämlich das „dystopische Porträt einer ökologisch optimierten Gesellschaft“ (Deutschlandfunk). Auch der im Frühjahr erschienene Roman Spitzweg, der nun auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist, beginnt mit einem programmatischen Satz: „Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.“
Wer nun aber davon eine Abrechnung mit der Kunst oder eine Biografie des Künstlers Carl Spitzweg erwartet, befindet sich auf einer der vielen falschen Fährten, die Nickel auslegt. Die Lebensgeschichte des Biedermeiermal
eschichte des Biedermeiermalers spielt eine kleine Rolle, und der Einstieg ist insofern als Negation zu verstehen, als dass gefragt wird, ob Kunst noch in Zeiten größter Profanierung bedeutungsvoll sein kann.Nickels falsche Fährten enden jedoch nicht in Sackgassen. Sie führen lediglich zu Kontexten und Erkenntnissen, die vorgängige Leseerwartungen enttäuschen. Sie führen, vorbereitet durch Mottos wie dem von Arno Schmidt, „Die Welt der Kunst & Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare“, durch einen ziemlichen Irrgarten aus Anspielungen, erweitert durch (zum Teil modifizierte) Zitate aus Kunst, Film, Literatur, Musik. Aus Goethes Faust, Hitchcocks Frenzy, Bertoluccis Die Träumer, dazu Wittgenstein, Adorno, Nabokov, E.T.A Hoffmann, Chopin, Richard Strauss, Grauzone und viele mehr.Nickel montiert und collagiert sein Material in schwindelerregender Weise, wenn etwa die Songzeile „Ich habe Stimmen gehört, ich hab ins Dunkel gesehen“ von Tocotronic an Mahlers Kindertotenlieder montiert wird. Doch Spitzweg ist schwindelerregend im doppelten Sinn. Vieles, was und wie im Roman zitiert wird, riecht nach Hochstapelei. Der Erzähler hat etwas von Felix Krull, etwas von Hans Castorp, wenn er sich von der bieder gewandeten Streberin Kirsten einen Bleistift borgt, wie Castorp im Zauberberg bei Madame Chauchat.Auf Distinktion bedachtDoch zurück zum Beginn des Romans: Eine Zeichenstunde in einer Oberstufe. Kirsten, die Bleistiftlausleihende, zeichnet wie alle anderen ein Selbstporträt, das ihre Lehrerin kommentiert: „Ausgesprochen gelungen, Respekt: Mut zur Hässlichkeit!“ Kirsten reagiert mit Flucht aus dem Klassenzimmer. Doch der Spruch setzt mehr in Gang. Der Erzähler und sein dandyhafter Freund Carl sinnen auf Rache an der Lehrerin. Sie fingieren einen Brief an den Direktor der Schule, dessen Autorschaft sie Kirstens Eltern zuschreiben und in dem sie behaupten, Kirsten sei entführt worden. Ob das stimmt, kann nicht nachgeprüft werden. Die Eltern leben zurückgezogen ohne Telefon und Internet. Die Suche nach Kirsten beginnt, und damit ein großes Hakenschlagen und Rätselraten, das sich im Vexierbildhaften und Verrätselten spiegelt, mit dem Nickel den Text mit Kontexten der abendländischen Hochkultur bis zur Sättigungsgrenze auflädt und dabei den Fetischcharakter der Kunst für das Bildungsbürgertum – und letztlich die Leserschaft – feiert und zugleich entlarvt.Auch die Sprache des Romans, vor allem die des blasierten Carl, ist janusgesichtig. Carl redet in prätentiösen Sätzen. Am Schulbüdchen sagt er: „Ich frequentiere Milch.“ Seine auf Distinktion bedachte Sprechweise wird so beschrieben: „Was Carl auch äußerte, war wohlüberlegt und bedeutungsvoll formuliert. Ich war wie geblendet von der Allgegenwart seiner Gedanken, die nicht nur wie das geschriebene Wort klangen, sondern genug Sinn ergaben, um aus einem schlauen Buch stammen zu können. Weil ich nie zuvor einen Menschen so hatte reden hören, wurde mir allein von dem Versuch, seinen Ausführungen zu folgen, schwindlig.“Da ist er wieder, der reizvolle Schwindel gesteigerter Kultiviertheit, dessen Zauber, Verführung und Wirkung Spitzweg auf allen Ebenen und in seinem im Grunde ein wenig dürren Plot verhandelt, ein Schwindel, der bis hin in die Ästhetisierung der Warenwelt reicht. Teure Tees werden getrunken, noch teurere Räucherstäbchen abgefackelt und die schöne Welt des Konsums erscheint hier als komplett durchökonomisiertes Abbild der Kunstwelt, deren Erzeugnisse mit dem gleichen Vokabular gefeiert und unters Volk gebracht werden. Das ist durchaus nicht neu, man denke an George Perecs 1965 erschienenen Roman Die Dinge, in dem allerdings die Verlockungen des Konsums das Glücksversprechen der Kunst und Wissenschaft nach und nach verdrängen. Bei Nickel fehlt diese moralisierende Komponente, Spitzweg führt uns letztlich das Bild einer kapitalistischen Wirklichkeit vor Augen, in der Kunst und Konsum nach der Formel „Kunst gleich Markt“ betrachtet werden.Ebenso brisant ist im Roman eine Frage, die nicht nur Carl in einem Referat im Kunstunterricht erörtert: die nach der Autorschaft. Sie ist, wie jüngst die Literatursoziologin Carolin Amlinger in ihrer Studie Schreiben herausgearbeitet hat, im abendländischen Kunstverständnis immer auch eine Frage eines spezifischen Besitzverhältnisses, das jedoch in der Regel kaschiert wird.Wie Nickel sie aufgreift, ist lesenswert, denn ihre Brisanz wird so camoufliert, dass sich Spitzweg unterhaltsam lesen lässt. Die Ironie im Ton des Erzählers mildert das Gewichtige des auf dem Prüfstand stehenden Verhältnisses zwischen Kunst, Urheber und Rezipient. Der Roman hätte womöglich noch an Reiz gewonnen, wenn seine Sprache mehr auf die Brüchigkeit reagiert hätte, die aus den Kernfragen entsteht, anstatt ihr Epigonentum à la Thomas Mann so lustvoll-gespreizt zur Schau zu stellen. Ob man das also mag, dürfte unbedingt eine Geschmacksfrage sein, keine, die an der Klugheit von Spitzweg zweifelt. Eckhart Nickel schreibt bei Weitem mehr als einprägsame erste Sätze.Placeholder infobox-1