Mit jedem endenden Jahr gibt es Rückblicke auf Bücher, Filme, verkaufsfördernde Rankings, bei denen die appetitlichsten, zeitgeistigsten Säue durchs Dorf getrieben werden und bei denen man den Kritikern beim Sortieren ihrer Regale zuschauen kann: Muss weg, darf bleiben. Zugegeben: Vieles, was man selbst hochgejubelt hat, weil Jubeln mehr freut als Meckern, ist auf den zweiten Blick vielleicht doch nicht mehr ganz so großartig – was einem dann aufgeht, wenn man ein Buch liest, das man nicht ins Regal zurückstellen möchte, weil man immer wieder darin lesen möchte.
Péter Nádas’ Schauergeschichten in der subtilen Übersetzung von Heinrich Eisterer (die gewiss an Grenzen stoßen musste, wenn es darum ging, den Ton dieses Romans in eine andere Sprache zu holen) ist ein solches, eben kein „Buch des Jahres“, kein „Highlight“, kein „Meisterwerk“. Schauergeschichten erzählt vom Mikrokosmos eines ungarischen Dorfes der späten 1960er Jahre, in dem die ganze Welt enthalten ist, in dem alle Figuren zugleich Typen und Individuen sind, in dem eine ganz bestimmte historische Zeit im mehrfachen Wortsinn aufgehoben ist: Ungarn rund ein Jahrzehnt nach dem Aufstand von 1956, der Ermordung von Imre Nagy und der Etablierung des Kádár-Regimes, aus dem der sogenannte Gulasch-Kommunismus entstand.
Höhere Bildung hilft nicht
Schauplatz des Romans ist ein Dorf unweit der ungarischen Hauptstadt Budapest. Der Zweite Weltkrieg ist noch keine Generation her, Besitz wurde unter dem kommunistischen Regime enteignet, man optimiert regierungsseitig den Landbau, während die Dorfbewohner ihren stummen Groll entweder wütend in den Feldboden hacken oder sich gegenseitig beäugen und beneiden, während sie nörgeln, jammern, sich an der Schwäche der Schwächsten ergötzen und jede Möglichkeit, die sich ihnen bietet, dazu nutzen, sich aufzuschwingen, sich besser zu machen: „Jeder wollte wissen, wie viel der andere für das Kilo bekommen hatte“, heißt es über den Verkauf der geernteten Beeren, aber: „Keiner hat es verraten. Doch in der Familie wurde es trotzdem bekannt. Man verbreitete höhere Preise als die tatsächlich gezahlten. Keiner hätte es dem anderen verzeihen können, hätte der mehr bekommen.“ Und wenn es doch herauskommt, heißt es: „Siehst du, so bescheißt uns das Leben.“
Unter den vom Leben Beschissenen ist „die Teres, die alte Schachtel, die Beißzange, Schlampe, alte Hexe, Vogelscheuche, die mit ihrem eigenen Namen gar nicht vorkam, Teres Várnagy“. Sie ist eine alleinstehende Bäuerin, die sich bei der Arbeit von der Epileptikerin Rosa helfen lässt, die sie zwar ausbeutet, aber dennoch auch ein wenig schützt und deren Eigenarten, einschließlich ihrer Freiheit oder Gleichgültigkeit im Sexuellen, sie hinnimmt. Da sind der Pfarrer und der Lehrer, die beide mit einiger Hilflosigkeit dem von Hass und Missgunst erfüllten Treiben zusehen, denen ihre höhere Bildung am Ende auch lediglich zum Schwadronieren gereicht.
Das Unglück im Dorf ist in diesem Roman immer auch ein Unglück infolge der historischen Entwicklungen. Péter Nádas wäre nicht der Autor von Weltliteratur, der er ist, wenn in seinen Büchern, zuvor im Buch der Erinnerung (1986, deutsch 1991) und in Parallelgeschichten (2005, deutsch 2012), die Zeitläufte nicht durch die Figuren hindurch aufscheinen würden. Teres, die einst als Dienstmagd der reichen Familie Ortváy in Budapest gedient, die Affäre der Frau im Haus mit gedeckt hat, hegt noch die Wut der ökonomisch Unterlegenen und fühlt sich zugleich noch immer so verfolgt von ihrer ehemaligen Herrin, dass die ihr als Tote wiedererscheint. Das Gefälle zwischen dem Adel und dem Volk, das in Ungarn vor dem Zweiten Weltkrieg immens war, west in dieser Konstellation als unbewusste Erinnerung, als unbewältigtes Unrechtsempfinden fort. Und im Verhältnis zwischen der jungen Psychologiestudentin und angehenden Forensikerin Piroschka und Imre Bolog, dem hochgewachsenen, seelisch verrohten Sohn der kleinwüchsigen Amália Mária Bolog, von allen nur hämisch „die Zwergin“ genannt, prallen die Archaik des Dorflebens in der ungarischen Provinz und die Verfeinerung der Städter ebenso aufeinander wie Trieb und Sublimierung.
Meisterhafte Psychologie
Auf Trieb und Sublimierung baut Nádas eine der atemberaubendsten Szenen dieses Romans auf und aus, eine Szene, die sich wölbt wie eine gotische Kathedrale, klar, symmetrisch, mächtig, ehrfurchtgebietend und voller Einsichten über die Unmöglichkeit von Liebe auf der Grundlage pädagogischer Motive. Es ist eine Szene, die bei aller Wucht der Beschreibung zugleich auch immer auf das Unbeschreibliche verweist, den blinden Fleck, das Rätsel der Fremdheit zwischen Menschen. Wenn Piroschka ihren Hass auf Imre zu sublimieren versucht, der, um ihr zu imponieren, ein Hündchen immer wieder in die Donau schmeißt, wenn sie schließlich trotz aller angestrengten Reflexion ihrer Affekte doch kapituliert, wenn damit seinen Lauf nimmt, was im Chaos endet, wird der Leser der Schauergeschichten Zeuge einer meisterhaften Psychologie dieses Erzählers.
Die Erzählinstanz in diesem tieftraurigen Roman, die sich häufig so sehr dem Strom der Rede der Dorfbewohner anheimstellt, ist so fein, so klug, so bedacht auf Empathie und so aufmerksam für jede Regung, jeden Blick und jede Beobachtung, jede olfaktorische Wahrnehmung aller Figuren, dass jeder Versuch, sie in einer Kritik zu beschreiben, darin enden muss, auf den Roman zurückzuverweisen und stattdessen eine stille Verneigung zu vollziehen vor dem Text und seinem Autor, einem der größten unter den lebenden europäischen Erzählern.
Schauergeschichten Péter Nádas Heinrich Eisterer (Übers.), Rowohlt 2022, 576 S., 30 €
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